Eine Straßenecke, an der man selbst schon hundert Mal gestanden hat, erkennt man auf den ersten Blick wieder. Etwa dreißig Schritt von ihr entfernt befindet sich der Zahnarzt, der seit zwanzig Jahren in meinem Gebiss herumfräst; etwa sechzig Schritte sind es bis zu dem Tanzstudio, in dem ich lange Kurse besuchte, und etwas länger, vielleicht fünfhundert Schritte, ging man früher zu der Wohngemeinschaft, in der mein Mann seine grüne Jugend verbrachte. Mit der Tochter des Hauptmieters, Prof. Dr. Gunter Schmidt, Psychologe und Sexualwissenschaftler, hat mein Mann Abitur gemacht. In der herrlichen Jugendstilwohnung von unübersehbaren Ausmaßen verkehrten gelegentlich auch der Sexualforscher Volkmar Sigusch sowie der Sozialwissenschaftler Günter Amendt.
Sigusch bezeichnete Schmidt spaßeshalber als prüde und lustfeindlich; alle drei wurden von uns jungem Gemüse gern als die Sexdoktoren bezeichnet.
Für mich schrecklich traurig und unfassbar, dass Günter Amendt am letzten Samstag genau an der oben beschriebenen Straßenecke bei einem verheerenden Unfall sterben musste – zusammen mit dem Schauspieler Dietmar Mues und dessen Frau sowie der Bildhauerin Angela Kurrer. Unter den acht Verletzten befanden sich auch der Schauspieler Peter Striebeck und Frau.
http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,750791,00.html
Ich gehöre zu der Generation, die mit dem Rote-Grütze-Theaterstück Was heißt hier Liebe? nicht unwesentlich aufgeklärt wurde. Günter Amendts Bücher Sexfront und Das Sex-Buch standen in jeder Wohngemeinschaft. Nach der Lektüre der spannenden und witzigen Aufklärungswerke konnte man sich beim besten Willen nicht mehr vorstellen, dass es dreißig Jahre später noch immer passiert, dass Massen von Teenagern ungewollte Schwangerschaften haben und grenzdebile Popstars ihre Partner wissentlich mit HIV infizieren. Oder dass sechzehnjährige Mädchen in Internetforen herumjammern, dass sie verzweifelt seien, weil sie am Wochenende ihre Jungfräulichkeit eingebüßt hätten. Günter Amendt hätte darauf nur geantwortet: Am besten gleich weitervögeln. Sein Werk vermittelt eine lustvolle und vor allem erwachsene und verantwortliche Einstellung zur Sexualität: Nie ohne Verhütungsmittel, nie mit Geschlechtskrankheiten.
Später setzte Amendt sich für eine unaufgeregte Debatte um die Drogenpolitik ein. Er war einer der ersten, die in deutschen Talkshows dafür einstanden, dass ein Joint am Abend auch nicht besser oder schlechter sei als ein Glas Wein.
Als herbe Schicksalsironie bezeichnet es die FAZ, dass Amendt ausgerechnet von einem Fahrer getötet wurde, der nach dem bisherigen Stand der Ermittlungen unter dem Einfluss von Cannabis gestanden haben soll. Ironie oder nicht – sowohl beim Sex wie beim Drogenkonsum predigte Amendt stets vor allem Verantwortungsbewusstsein. Das wird dem Achtunddreißigjährigen, der sich am Samstag bekifft ans Steuer setzte und vier Menschen tötete, acht verletzte und zahllose weitere totunglücklich machte (das Ehepaar Mues hinterlässt drei Kinder) zweifellos gefehlt haben.