Gastautor / 24.09.2010 / 08:13 / 0 / Seite ausdrucken

„Ich stehe, wie so oft, auch hier neben mir selbst“

Ingo Langner

Die Gymnasiastin trägt schwarz-weiße Schuhe, einen Minirock, die gemusterte Bluse hochgeschlossen, ihr Haar offen und schulterlang. Beide Arme sind hinter dem Rücken verschränkt. Mit weit aufgerissenen Augen schaut sie nach oben. Was sie fixiert, ist auf der Photographie nicht zu erkennen. Mit diesem Blick, der zwischen Bangen und Hoffen changiert, hat gewiss auch Heinrich von Kleists Heilbronner Käthchen ihren Cherub geschaut.

Einen Schritt hinter der Gymnasiastin stehen dichtgedrängt neun etwas jüngere Mädchen in braver, doch auch schon kniefreier Schuluniform. Alle Neun tragen helle Schleifen im Haar. Die Augen der Mädchen sind wie leergewischt. Keine von ihnen sieht die nichtuniformierte Mitschülerin an – als wäre sie schon auf dem Weg an den Pranger.

Das Foto der Gymnasiastin ist kein Theatertraumbild. Es stammt aus der wirklichen Wirklichkeit. Es ist ein Porträt der Schriftstellerin als junge Frau. Es stammt aus ihren rumänischen Jahren. Also aus jener Zeit, in der ihr Martyrium als Verfolgte der Securitate noch bevorstand, in der sie noch nicht die heute landauf, landab gefeierte Nobelpreisträgerin war. Die Gymnasiastin ist Herta Müller. „Der Bogen von einem Kind, das Kühe hütet im Tal, bis hierher ins Stadthaus von Stockholm ist bizarr. Ich stehe, wie so oft, auch hier neben mir selbst“ wird sie, rund vierzig Jahre später, bei ihrer Literaturnobelpreistischrede sagen. Dort hört ihr nicht nur der König von Schweden zu, sondern, medial vermittelt, die ganze Welt.

Im Berliner Literaturhaus kann Herta Müllers Cherubblick jetzt jeder sehen. Zusammen mit Manuskripten zu ihren Büchern, den an einer Schnur aufgereihten vielen hundert faksimilierten Seiten ihrer geheimdienstlichen Opferakte „Christina“ und anderen Fotos, die sie schüchtern mit ihrem Vater (der bei der Waffen-SS war) und ihrer Mutter (die von den Sowjets ins Lager Verschleppte), verträumt als Prinzessin Tausendschön in einem Kindermärchen, entspannt mit ihren rumänischen Freunden, als Lehrerin mit Kollegen, auf einem Doppelstockbett in einem Nürnberger Durchgangslager mit ihrem damaligen Ehemann Richard Wagner im März 1987 kurz nach der Ausreise in den Westen, bei ihren ersten hiesigen Lesungen, während der Tischrede beim Nobel-Bankett in Stockholm und zusammen mit Oskar Pastior zeigen.

Im Sommer 2004 hatte ihr guter Freund und Dichterkollege sie an jene ukrainischen Arbeitslager geführt, wohin Pastior von 1945 an – wie fast alle Rumäniendeutschen zwischen achtzehn und vierzig – fünf Jahre lang von den Sowjets deportiert worden war.

Aus seinen Erinnerungen an die Schrecken der Hungerjahre des 1927 Geborenen wollten Oskar Pastior und Herta Müller ein Buch machen. Als der Büchnerpreisträger von 2006 im selben Jahr – und noch vor der Preisübergabe – in Frankfurt am Main unerwartet verstarb, schien es für Herta Müller zunächst so, als müsse nun auch das gemeinsame Buchprojekt eingestellt werden.

Doch nach dem Ablauf des Trauerjahres schrieb sie es selbst und allein. Sie nannte es „Atemschaukel“, und was ihr damit gelang, gehört zum Höchsten, was nach dem Zweiten Weltkrieg in deutscher Sprache zu Papier gebracht worden ist.

Als die vom Chef des Berliner Literaturhauses Ernest Wichner und seinem Projektleiter Lutz Dittrich kuratierte Ausstellung am vergangenen Freitagabend in ihrem noblen Haus in der Charlottenburger Fasanenstraße eröffnet wurde, wusste man schon aus den Nachrichten desselben Tages, dass von 1961 bis 1968 auch Oskar Pastior für die Securitate als Spitzel gearbeitet hatte. Sein IM-Deckname war „Otto Stein“.

Ernest Wichner, wie Herta Müller Banater Schwabe und mit ihr seit Jugendtagen befreundet, hatte Oskar Pastiors Securitate-Akte selbst in diesem Sommer in Bukarest recherchiert. Wichner sprach am Ende seiner Eröffnungsrede den Fall offen an, zitierte aus einem mit „Versuchte Rekonstruktion“ überschriebenen Notizblatt von 1992, das in Pastiors Nachlass und in einer Vitrine der Herta Müller gewidmeten Ausstellung liegt und in dem Pastior schreibt:

„In meinen Securitate-Akten könnte Aufschluss zu finden sein: – wann ich in Bukarest aus einem Rundfunkgebäude zum ersten Verhör verschleppt wurde (im Auto, unter dem Vorwand, eine ,Künstler-Agentur‘ wolle mir was unterbreiten); echtes Kidnapping; – ob ich ein Protokoll oder eine Erklärung ,Staatsfeindliches aus meinem Tätigkeitsbereich zu melden‘ unterschrieben habe; – wann und wie oft man mich nachher zu Verhör und Berichterstattung zitiert hat; – wer und was dabei zur Sprache kam; – dass ich nie Geld oder andere Zuwendungen erhalten habe…“ Wie Ernest Wichner betonte, hat Pastior sich 1968, nach seiner legalen Reise nach Wien, von der er illegalerweise nicht nach Rumänien zurückkehrte, westlichen Geheimdiensten offenbart – seinen Freunden jedoch zeitlebens nicht. Seinen Freunden hat er das jedoch zeitlebens verschwiegen.

Nach Wichner ergriff auch Herta Müller das Wort: „Meine erste Reaktion war Erschrecken, auch Wut. Es war wie eine Ohrfeige“, sagte sie. Doch dann erteilt sie ihrem toten Freund postum die persönliche Absolution: „Ich habe mich nicht von Oskar Pastior zu distanzieren. Ich habe ihn noch genauso lieb wie früher.“ In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beantwortet sie die Frage „Nehmen Sie ihm sein Schweigen übel?“ so: „Ja sicher. Er hätte es sagen sollen.“ Doch dann betont sie ausdrücklich: „Die Dinge hatten mit mir und meiner Zeit in Rumänien nichts zu tun. Ich war ein siebenjähriges Kind, als Pastior IM wurde.“

Richard Wagner, der in seiner rumänischen Zeit gemeinsam mit Herta Müller und anderen zu einer 1971 gegründeten Vereinigung junger und staatskritischer Schriftsteller gehörte, die sich „Aktionsgruppe Banat“ nannte und naturgemäß von der Securitate observiert, bedrängt und schließlich 1975 verboten wurde, urteilt in einem „Der Dichter als Informant“ überschriebenen Artikel (auf http://www.achgut.de) über den Fall Pastior ähnlich wie Herta Müller, doch mit spürbar größerer Distanz.

Wagners Kritik trifft auch jene, die sich jetzt öffentlich und mehr oder weniger larmoyant zu eigentlich unberufenen Verteidigern Pastiors aufschwingen. Oder um es in seinen eigenen Worten zu sagen: „Zum Lebenswichtigen gehört die Zuneigung zum anderen, es ist für uns das Wahre, muss es sein, denn es ist der Beweis, dass wir nicht allein sind. Wer den Menschen dieses Vertrauen wegnimmt, der trifft ins Herz aller Dinge. Und wer das als IM in Kauf nimmt, ist ein Täter. Ihm kann nur eines helfen: darüber reden, und damit die Geschäftsgrundlage seiner Tätigkeit aufgeben. Das machen die wenigsten, auch Oskar Pastior hat es nicht getan. Jene aber, die jetzt in heller Aufregung und gleichzeitig voller Verständnis herbeieilen, sollten sich vielleicht doch eine Frage stellen. Diese: Hätten sie, wenn Pastior seine IM-Tätigkeit publik gemacht hätte, ihm trotz allem den Büchnerpreis zugesprochen? Es wird um eine ehrliche Antwort gebeten.“

Zu den Regeln des Berliner Literaturhauses gehörte es bisher, Ausstellungen nur über tote Dichter zu machen. Auf Bitten von Reinhard G. Wittmann, dem Leiter des Münchener Literaturhauses, wo die Herta Müller-Ausstellung schon im Frühjahr des Jahres gezeigt wurde, ist dieses kluge Prinzip von Ernest Wichner erstmalig außer Kraft gesetzt worden. Herta Müller selbst war es, die den Ausstellungstitel „Der kalte Schmuck des Lebens“ vorschlug.

Das Ausstellungsplakat zeigt sie vor einem blauen Hintergrund und in strengem Schwarz. Eng anliegend bedeckt ihr Rock ihre Knie und die hochgeschlossene Bluse ist vermutlich aus schimmernder Seide. Die auf dem Cherubim-Foto in der Gymnasiumszeit noch hinter dem Rücken verborgenen Arme sind nun unter der Brust verschränkt. Das Haar trägt sie immer noch offen. Ihre Augen sind jetzt nicht mehr nach oben, sondern halbgeschlossen auf etwas für uns Unsichtbares am Boden gerichtet. Diese Fotografie zeigt nicht mehr das Porträt der Schriftstellerin als junge Frau, sondern das einer Erfolgreichen, die den noch frischen Weltruhm auf ihren schmalen Schultern auszubalancieren versucht. „Ich stehe, wie so oft, auch hier neben mir selbst“, hat Herta Müller in Stockholm gesagt. Allein in ihren Büchern scheint sie ganz bei sich angekommen zu sein. Wie jeder Wortmagier ist sie in ihren Erzählungen, Romanen und Collagegedichten einzigartig und eine, die den Bogen spannt, mitten in unser Herz zielt und trifft.

Heinrich von Kleist war einer, dem hier auf Erden nicht zu helfen war. Seinem Käthchen schon. Nach beinahe kaum endenwollenden Wirrungen stellt sie ihr Dichter in ihrem letzten Auftritt von adeligen Damen geführt „im kaiserlichen Brautschmuck“ auf die Bühne. Noch ihre Schleppe wird von drei Pagen getragen. Wie das Kleistsche Käthchen, das dem Bild seines Herzenscherubs solange folgt, bis es sein Ziel erreicht, hat sich Herta Müller aus den Niederungen des dörflichen Lebens allein durch die Macht ihrer Sprache an eine königliche Tafel geschrieben. Ihr vom Protokoll auf zehn Minuten begrenztes Gespräch mit dem König von Schweden hat, so hört man, fast eine Stunde gedauert. Der hochwohlgeborene Herr und die ehemalige Banater Kuhmagd müssen sich demnach prächtig verstanden haben. Wie es scheint, ist der Kindermärchentraum der Prinzessin Tausendschön wahr geworden. „Schütze mich Gott und alle Heiligen!“, lässt Heinrich von Kleist sein Käthchen zu guter Letzt sagen. Dieser Satz könnte auch für Herta Müller geschrieben sein.

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