Gastautor / 15.09.2009 / 17:27 / 0 / Seite ausdrucken

Die Löwin weiß zu brüllen!

Von Helmut Ahrens

Laudatio anlässlich der Verleihung des Hildegard-von-Bingen-Preises an Necla Kelek:

Türkei, Arabien, Persien – wir sahen sie in den Zeiten einer frühen Industrialisierung als Phantasmen reicher behaglicher Exotik: Die Engländer malten erträumte Haremswelten in Öl und rauchten im Herrenzimmer die Wasserpfeife. Die Deutschen trugen zum Hausmantel den filzigen Fez. Ein junger Schwabe dichtete vom Kalifen und dem kleinen Muck. Sogar Wien verwandelte seine Erinnerung an die Heere des osmanischen Reiches in bunten Stoff für Opern- oder Operettenlibretti. Das Kaffeehaus, die Türken hätten es möglich gemacht. Ein froher Irrtum. Das erste Kaffeehaus war Mitte des 17. Jahrhunderts in Hamburg eröffnet worden. Und das Kipferl, Nuss oder Vanille, erinnere an den Halbmond der Osmanen. Auch nicht richtig.

Gewiss, gerade die Deutschen wussten sich archäologisch, linguistisch, historisch und wohl auch künstlerisch intensiv wie kaum eine andere Nation mit dem wirklichen Persien, Arabien oder der Türkei auseinander zu setzen. Meist jedoch ist es unser ganz eigener gesättigt europäischer Orient gewesen, der wirkmächtig sein Bild vor Augen stellte. Als hätte es die Grüne Partei mit ihren multi-kulturellen Sehnsüchten schon immer gegeben, war dieser Nahe Osten weiter, bunter, sinnlicher als unser dampfbetriebenes Abendland. Und wenn wir es ganz toll trieben, konnten wir sogar die besseren Menschen im Morgenland sein: In der Phantasie als KaraBenemsi oder, ein durchaus aufschlussreiches Kapitel britischer Kolonialpolitik, als Lawrence of Arabia.

Dr. Necla Kelek sind die romantischen Schöpfungen europäischer Bildungsbürger gerade des späten 18. und des 19. Jahrhunderts ausgesprochen vertraut. Sie spielt mit solchen Bildern, taucht – gar nicht mal ironisierend – manche Szene ihrer Beschreibungen, Erinnerungen und Reportagen in die Sprachwelt eines orientalischen Erzählers: Dann schmeckt die Luft nach „Tausend und einer Nacht“.

In ihrem „Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland“, jenem Buch, mit dem vielsagenden Titel „Die fremde Braut“, in dem die Autorin aus Sicht einer Türkin in Deutschland den Lesern erklärt, warum und woran die Integration hierzulande zu scheitern vermag, ja, sie von ihrem persönlichen Lebensweg erzählt, um schließlich über das Schicksal eben dieser fremden Bräute hier im Lande zu schreiben, in diesem Buch also, erschienen 2005, schildert Kelek: „Ali, mein Urgroßvater, kam 1895 alleine über das Schwarze Meer mit einem Schiff nach Istanbul.“ Und fährt später fort: „Ali kam allein und doch auch wieder nicht. In seiner Begleitung und in seinem Besitz hatte er 200 Sklaven und einen ganzen Hausstand an Silber, Samowaren, Geschirr, Schmuck und Waffen.“

Kelek lässt uns wissen: „Dies ist eine wahre Geschichte. Sie handelt von Liebe und Sklaverei, von Ehre und Respekt, vom türkischen Mokka und verkauften Bräuten. Sie erzählt von meiner Familie, die aus Anatolien über Istanbul nach Deutschland kam. Und sie erzählt von meinem Weg in die Freiheit.“

Die Freiheit, das ist das große Thema der Necla Kelek. Freiheit, die stets die Freiheit von Einengung, Bedrängung, Begrenzung meint; die Abwesenheit von Zwang, Knechtschaft, Bevormundung: Freiheit von Gewalt, vielleicht sogar Freiheit von Angst.

Vor zwei Jahren versammelte die Sozialwissenschaftlerin und Publizistin Ulrike Ackermann Plädoyers für eine offene Gesellschaft in dem Band „Welche Freiheit?“. Der in diesem Jahr verstorbene Lord Ralf Dahrendorf definiert dort, in einem Beitrag, den er noch als Prorektor der Universität Oxford verfasst hatte: „Freiheit ist die Abwesenheit von Zwang. Menschen sind in dem Maße frei, in dem sie ihre eigenen Entscheidungen treffen können. Im Zustand der Freiheit finden wir Verhältnisse, die Zwänge auf ein Minimum reduzieren.“

„Welche Freiheit“ versammelt Gedanken, Essays: Neben Ralf Dahrendorf findet der Leser den ungarischen Schriftsteller Péter Esterházy, den gewichtigen Vertreter der „Nouveaux philosoph“ André Glucksmann (Autor des schönen und klugen Buches „Die Macht der Dummheit“) oder den Budapester Romancier Péter Nádas — um nur einige zu nennen — und eben Necla Kelek.

Kelek beschreibt in diesem Buch die islamisch geprägten Gesellschaften. Seit über tausend Jahren, erklärt die Autorin, sind es dort die Männer, die gemäß der Sure 7, im Vers 157 des Korans, vorgeben, was recht ist und was als verwerflich gelten kann. Kelek: „Die Freiheit des Einzelnen ist in dieser Kultur verdächtig. Rechte hat der Einzelne nicht. In den Teehäusern und Moscheen tun die Männer nichts anderes, als sich gegenseitig zu beäugen und über die angeblichen Fehler der Anderen zu reden. Besonders über die Fehler der Frauen. Das Misstrauen gegen die eigene Frau und die der anderen, liegt wie ein Fluch über der türkisch-muslimischen Gesellschaft, es macht sie engherzig und beklemmend.“

Necla Kelek wird am 31. Dezember 1957 in Istanbul, als Kind einer Familie, die zur tscherkessischen Minderheit gehört, geboren. Die Familie lebt in einem der schönen alten Holzhäuser, die die Europäische Union zurzeit zu retten versucht: Eine kleine Terrasse, ein Hinterhofgarten. Das Mädchen spielt am liebsten „sek sek“, „hüpf hüpf“. Es gibt selbstgemachte Limonade, wenn es heiß wird. Klassische türkische Musik dröhnt aus dem Radio.

Necla erhält keinen Koranunterricht, trägt kein Kopftuch, darf schwimmen, turnen, schaukeln, sogar Fahrrad fahren.

Mädchen und Buben spielen gemeinsam.

Die Keleks sind moderne Türken, westlich, säkular: Der Glanz Hollywoods, die Musik von Elvis Presley, ein Wagen der Firma Cadillac in der Nachbarschaft.  Amerika ist Projektion und Hoffnung.

1966 wandert die Familie aus. Nicht nach Übersee in die Vereinigten Staaten, sondern nach Deutschland. Hier erst beginnt der Vater sich intensiver mit dem Koran zu beschäftigen, wendet sich der Religion zu.

Necla darf jetzt nicht mehr am Schulsport teilnehmen, das gebiete die Familienehre.

Ältere Geschwister fügen sich. Sie aber will sich nicht einfangen lassen, nicht verzichten auf Sport, Ausflug, auf das Miteinander in Schule und Freizeit.

Der Vater tobt. Droht, er wolle sie erschlagen; mit einem Beil sogar.

Dieser Vater, einer der ersten so genannten „Gastarbeiter“ in Deutschland, wird in wenigen Jahren die Familie verlassen.

Bis dahin stellt sich Necla Kelek gegen die Regeln des Vaters, will Bürger ihrer neuen Heimat sein. Sie engagiert sich in Schule und Hochschule, wird Technische Zeichnerin, studiert in Hamburg Volkswirtschaft und Soziologie.

2001 promoviert die junge Frau mit einer Untersuchung über die Bedeutung des Islams in der Lebenswelt türkischstämmiger Schülerinnen und Schüler.

Die Arbeit erscheint auch als Buch. In einer Vorbemerkung sagt die Autorin: „Ich bin Türkin und lebe seit 30 Jahren in Deutschland. Ich würde mich als voll integriert bezeichnen. Ich spreche Deutsch wie meine Muttersprache, habe viel von der deutschen Kultur angenommen, bin sozial und ökonomisch eingebunden in die deutsche Gesellschaft. Manche meiner Landsleute würden mich als assimilierte ‚Deutschländerin‘ (almanci) bezeichnen. Ein Begriff, mit dem im negativen Sinne die ‚Angepassten‘ bezeichnet werden. Manchmal frage ich mich, wo meine kulturellen Ursprünge geblieben sind.“

Weil sie nach der eigenen Herkunft fragt, gleichzeitig in Deutschland ganz zu Hause ist, zeigt und beschreibt sie dem Leser, dem Zuhörer, dem Zuschauer, die Befindlichkeit islamischer Parallelwelten klarsichtig und genau.

Man hat ihr häufig genug vorgeworfen, dass die Publizistin, die Kommentatorin, die Journalistin, anders als die Wissenschaftlerin, ungeniert aus dem Fundus persönlicher Erfahrungen schöpft, dass sie also zu subjektiv in ihrem Urteil sei und sich allzu sehr am Individuum, am Einzelschicksal interessiert zeige. Gerne haben ihre Kritiker, durchaus willkürlich, übersehen, dass der Mut zum Persönlichen, das Gefühl für das Einzelschicksal, der nachgerade konservativ verfasste Sinn für das Individuum und dessen Bedeutung, zu den wirkungskräftigen Stilmitteln der Autorin und Vortragenden Kelek gehören; Stilmittel, die dem Leser, dem Hörer, ausgesprochen erhellende Einsichten bieten.

Dass Necla Kelek überdies in die deutsche Sprache verliebt ist, in ihren Klang, ihre Farbe, ihre schillernde Erklärungsdichte, schenkt uns jene Texte, die ganz aus dem Erfahrenen, ganz aus dem Persönlichen heraus leben.

Nie gerinnen Statistiken zu einem reinen Lesevergnügen, da braucht es schon handfeste Schicksale und die Schilderungen von konkreter Duldung, wirklichem Leid, oder, wenn es gut kommt, tatsächlicher Freude.

Gewiss, manche Statistik wird dennoch zum Schlaglicht: Wir lesen die Untersuchung des Berliner Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, die erstmals die Integrationserfolge einzelner Migrantengruppen, auch die der Zuwandererkinder mit deutschem Pass, untersucht. Das Ergebnis: Türkische Einwanderer und deren Kinder haben schlechte Aussichten, sich in Deutschland zu integrieren. 30 Prozent der Türken und Türkischstämmigen besitzen keinen Schulabschluss, nur 14 Prozent haben Abitur. Menschen mit türkischem Migrationshintergrund erreichen die geringste Erfolgsmarge aller Migranten im Erwerbsleben, sind deshalb häufig erwerbslos und folglich nicht selten abhängig von Sozialleistungen.

Basis der Studie ist der Mikrozensus des Jahres 2005. 800.000 Menschen wurden befragt. Am besten schnitten Einwanderer aus EU Ländern, deutschstämmige Aussiedler und Migranten aus dem fernen Osten ab.

In „Die fremde Braut“ beschreibt Necla Kelek diese so häufig gescheiterte Integration der Türken in Deutschland, schildert plastisch und drastisch zwei der Folgen dieses in der eigenen Herkunft Verharrens: Die Zwangsheirat und den Ehrenmord.

Nicht nur in der schreibenden Öffentlichkeit, in der Politik, nicht nur in der Welt bundesrepublikanischer Leser, sondern – und das ist ihrer nicht geringen Dialogfähigkeit geschuldet – auch in der Welt des hiesigen Islam,  konnten plötzlich Zwangsheirat und Ehrenmord nicht länger beschwiegen und sozusagen multikulturell umstellt werden.

In diesem Zusammenhang drängt sich eine uralte auf´s schauerlichste überkommene Szene auf, eine Szene, sie spielt nicht in Deutschland, die ein Pressefoto erzählt, das manchen Journalistenkollegen bekannt sein dürfte: Stephanie Sinclair, amerikanische Bildjournalistin, lichtete ein Brautpaar in Afghanistan ab. Der Bräutigam, er heißt Mohammed, ist vierzig Jahre alt, doch wirkt das bärtige Antlitz wesentlich älter. Seine Braut Ghulam schaut ernst in die Kamera. Sie ist elf Jahre alt. 2007 wurde das Pressefoto der Stephanie Sinclair zum „Unicef-Foto-des-Jahres“ gekürt.

Vor ein paar Tagen debattierte das Parlament über den unpopulären doch bis auf die Linkspartei von allen standfest unterstützen Einsatz deutscher Truppen in Afghanistan. Die Rede war von der Basis des islamistischen Terrorismus, von der Nuklearmacht Pakistan in der Nachbarschaft, von Ausbildungscamps und europäischer Sicherheit. Wie weit die Ziele dieses Krieges, denn es ist ein Krieg, auch der Lebenswirklichkeit der elfjährigen Ghulam dienen, kann nur vermutet werden.

2007 vertieft und erweitert Necla Kelek die öffentliche Auseinandersetzung, fragt nun in ihrem Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes „Die verlorenen Söhne“: „Warum scheitern so viele türkisch-muslimische Jungen in der Schule? Warum werden sie als Jugendliche dreimal so häufig straffällig wie ihre deutschen Altersgenossen? Sind soziale Benachteiligungen und mangelnde Bildungschancen der Migranten die Ursache dafür?“

Kelek beschreibt die Zerreißprobe zwischen den archaischen Traditionen auf der einen Seite und den Anforderungen der westlichen Welt auf der anderen, Traditionen, die Gehorsam und Unterwerfung von ihren jungen Männern verlangen. Sie schildert Begriffe von Männlichkeit, die bei Lichte besehen die Hinwendung zu Werten der Stärke, des Kampfesmuts, der Gewaltbereitschaft und der provokanten Aggression bedeuten. Allesamt Eigenschaften, die in einer pluralistischen demokratischen Gesellschaft nicht einmal als gebrochene Kraft aufscheinen: Im Gegenteil.

Nun lässt sie in „Die verlorenen Söhne“ einen Yilmaz, keine „fremde Braut“, vielmehr ein willenloser Bräutigam, sagen: „Was soll ich schon gedacht haben? Ich habe gar nichts gedacht. Das ist doch auch nicht vorgesehen. Ich sah sie, fand das Gesicht in Ordnung und behindert war sie auch nicht. Das war es. Sie war die Tochter eines Freundes meines Onkels aus Deutschland. Da mein Vater tot war, oblag es nach unserer Tradition, wir sind Aleviten, meinem Onkel, für meine Verheiratung zu sorgen und die Hochzeit auszurichten. Er hat alles geplant und vorbereitet. Auf der Hochzeitsfeier sah ich meine Frau dann zum ersten Mal.“

Jahrzehntelang habe sich die deutsche Gesellschaft nicht darum gekümmert, was genau in den Moscheen und Gebetshäusern geschehe, beklagt Necla Kelek. Gewiss, an „Tagen der offenen Tür“ dürfen die Deutschen eine Moschee besichtigen, doch was Hodschas als Vorbeter und Unterrichtende muslimischer Kinder in den Koranschulen verbreiten, was in den Moscheen gedacht und gepredigt werde, bleibe der Öffentlichkeit verborgen.

Die weit verbreitete intellektuelle Apathie, die in unserer deutschen Gesellschaft herrscht, dieses sich abwenden von oder doch nicht vertieft auseinandersetzen mit den jeweiligen Parallelgesellschaften der neuen Einwanderer, diese Toleranz geschwängerte Gleichgültigkeit, die noch vor zehn, fünfzehn Jahren den Nicht-Dialog zwischen den Kulturen, Religionen und Menschengruppen bestimmte, kann wahrscheinlich nur erfassen, wer sich an die junge Bundesrepublik zu erinnern vermag: Frauen trugen den Petticoat, Heinz Erhardt reimte seine Reime und das Andersartige, Fremde, durch und durch Ausländische, blitzte gerade mal in den „Capri Fischern“ auf. Dieses Gummibaum beschmückte Nierentisch-Deutschland kannte „Die fremde Braut“ als böhmisch kurzweilige Operette von der „verkauften“ Braut, den Ehrenmord als Schurkenstück sizilianischer Banden und erfuhr auf den Brettern seiner Stadttheater religiöse Toleranz in Lessings „Nathan der Weise“.

Nach zwei Weltkriegen wollte sich diese neue Republik als Unschuldslamm sehen: Rein, heil, unverdorben.

Wir bauten Autos und Kühlschränke und auf den Leinwänden der Kinotheater tanzten Heideförster und Schwarzwaldmädel.

Wenn wir zum Bau der Autos und Kühlschränke noch ein paar Hände mehr brauchten, lass sie doch kommen aus dem Ausland, sie gehen schon wieder heim.

Überdies war bis dahin die Einwanderung beinahe ausschließlich ein innereuropäisches Phänomen: Hugenotten aus Frankreich im Friderizianischen Preußen. Polnische Arbeiter im Kohlerevier. Steinmetze aus Italien in den Jahren des Barock.

Giovanni di Lorenzo fragte in seiner Rubrik im „Zeit Magazin“ „Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt“ den Altkanzler: „Lieber Herr Schmidt, Ihre Generation hat Millionen von Ausländern nach Deutschland geholt, aber sich herzlich wenig um die Folgen gekümmert.“

Schmidt wollte sich diesen Schuh nicht anziehen, wusste aber doch festzustellen: „Im Laufe der Jahre hat sich herausgestellt, dass es verschiedene Ausländer gab: Deutliche Probleme gab es mit einigen Türken, die in der zweiten und dritten Generation nach Deutschland kamen oder hier geboren wurden.“

Der Altkanzler knapp: „Wir hätten ihnen schulische Bildung geben und alle Türen öffnen müssen. Das haben wir aber nicht getan.“ Und: „All das schöne Gerede von Multikulti hat bisher keine positiven Wirkungen erzeugt.“

„Die kulturellen Unterschiede“, so Schmidt, „sind nun einmal zwischen einer jungen Türkin aus einem Dorf im Osten Anatoliens und der Bevölkerung einer Großstadt erheblich größer, als etwa die Unterschiede zwischen einem italienischen Arbeiter aus Kalabrien und einem deutschen Arbeiter“.

„Haben Sie jemals in Ihrem Leben einen Döner gegessen?“, wollte di Lorenzo übrigens wissen. Darauf Schmidt: „Wenn man Gast ist, muss man essen, was auf den Tisch kommt. Von mir aus habe ich keinen Döner bestellt.“

Heute gehören Kebab und Döner zu den Nationalspeisen der Deutschen, wie die große Pizza der Italiener in Amerika oder das feurige Curry der Inder in England. In der Bundesrepublik leben zwischen 3,8 und 4,3 Millionen Muslime mit Migrationshintergrund, informiert die Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ im Juni diesen Jahres: 2,5 Millionen, der sich zum Islam zählenden Bürger, haben einen türkischen Hintergrund. 550.000 kommen aus Südosteuropa, 330.000 aus dem Nahen Osten. Dazu kommen Muslime aus Süd- und Südostasien, Nordafrika, Iran, Zentralasien und dem Afrika südlich der Sahara. Die meisten unserer Muslime sind sunnitisch, genau 74,1 Prozent. Dann folgen die Aleviten und schließlich die hauptsächlich aus dem Iran stammenden Schiiten.

Die Mehrheit der Muslime lebt in den alten Bundesländern und zwar die überragende Mehrheit. Es sind nicht einmal zwei Prozent, der sich zum Islam zählenden Bürger, die die neuen Bundesländer als Heimat gewählt haben.

Vor einem Monat suchte und fand Adrian Michaels für seine große Reportage in der „Sunday Times“ über den Islam in der Europäischen Union einen wuchtigen Titel: „Muslime in Europa: Die demografische Zeitbombe.“ Michaels: „Auch die neueste Einwanderungswelle hier in der Europäischen Union mit Millionen von Muslimen in unseren Ländern wird in den nächsten zwei Jahrzehnten das Antlitz unseres Kontinents in einer Art verändern, wie wir sie uns nicht vorstellen können. Denn kaum jemand unserer Politiker spricht darüber.“

Das stimmt nicht überall und sicherlich nicht in Deutschland. Politiker diskutieren. Der Innenminister lädt zu einer Islamkonferenz. Soziologen forschen. Journalisten schauen genau hin und sprechen, schreiben:

Kuratoriumsmitglied und Hildegard-von-Bingen-Preisträger 2008 Henryk M. Broder verfasst mit „Hurra, wir kapitulieren! Von der Lust am Einknicken“ eine Streitschrift gegen falsche Toleranz und gegen Duckmäusertum, vor allem gegen einen islamischen Fundamentalismus.

Focus-Chefredakteur Helmut Markwort, der als Preisrichter 2007 Broder für die Ludwig-Börne-Auszeichnung vorschlägt, zitiert in seiner Paulskirchenrede den Journalisten Börne mit dessen Satz: „Die Freiheit ist gar nichts Positives, sie ist nur etwas Negatives: die Abwesenheit der Unfreiheit.“ Um schließlich an Frauen, Mädchen, Kinder zu erinnern, die wirkliche Freiheit nicht kennen, weil die Religion, zum Gesetz geworden, es den Familien unmöglich mache, sich ihr zu entziehen. Markwort: „Die Abwesenheit von Freiheit gibt es auch bei uns in Europa, falls sich die aufgeklärten Muslime nicht durchsetzen oder einfach schweigen, wenn ihre fanatischen Glaubensbrüder die Rechtsregeln des Koran zu uns importieren wollen, zumindest in der Version einer ‘Sharia light’.“

Markwort bekräftigt, es sei wünschenswert, dass sich Religionen gegenseitig tolerieren, aber jede einseitige Toleranz sei für die Bürger in den westlichen Demokratien „hoch gefährlich“.

Mit Necla Kelek nun wird eine neue Stimme vernehmbar. Eine Autorin, die den Dialog, das Gespräch, sicherlich auch den Streit, die Auseinandersetzung zwischen den Kulturen, den religiösen und den säkularen Welten vertieft, weil sie glückhaft und erfrischend beides in sich trägt, die islamisch türkische Herkunft und das runde Wissen, die lebendige Sprachverliebtheit jener Deutschen, die man früher Bildungsbürger nannte. Sie gehört zu den Frauen – denn fast immer sind es Frauen – die mit ihrem eigenen islamischem Hintergrund über Parallelgesellschaften in Europa, falsch verstandene Toleranz oder aber über die schiere Unterdrückung ihres Geschlechts berichten. Die niederländische Politikerin und Autorin somalischer Herkunft, Ajaan Hirsiali, gehört zu diesen mutigen und engagierten Autoren. In Ägypten wirkt Sérénad Chafik. In der Türkei kämpft Sejran Ates.

Necla Kelek in Deutschland ist streitbar, aufmüpfig, geht keiner Kontroverse aus dem Weg. Als Mitte 2006 in der Wochenzeitung „Die Zeit“ Sozialwissenschaftler, insbesondere Migrationsforscher, sechzig an der Zahl, sich gegen Kelek stellen und behaupten, nicht das schwierige Gegenüber von Islam und westlicher Welt habe zu Problemen geführt, sondern die „Abschottungspolitik Europas“, schlägt die so Angegriffene beherzt zurück und kritisiert das „ideologische Konzept des Multikulturalismus“. Gelassen stellt sie fest, dass ihre Kritiker „aus der gut ausgestatteten Welt der öffentlich finanzierten Migrationsforschung“ stammen. Ein Bereich, so Kelek, der seit 30 Jahren für „das Scheitern der Integrationspolitik verantwortlich“ sei. Überdies hätten viele schlicht „Angst um ihre Forschungsmittel“.

Fraglos, die Löwin weiß zu brüllen!

Noch einmal muss hier vom guten Börne die Rede sein, denn Necla Kelek war, wie Markwort, Preisrichterin, wie überdies in unserem Kuratorium auch Harald Schmidt. Als Preisträger übrigens, von Henryk Broder war schon die Rede, tragen und trugen Joachim Fest und Joachim Kaiser diese Auszeichnung. Kelek also, die im Frühjahr dem Herausgeber der FAZ, Frank Schirrmacher, den Preis zusprach, benutzte den symbolträchtigen Rahmen der Paulskirche, um den anwesenden Politikern und Journalisten zu erklären: „Künftig sollen die integrationspolitischen Initiativen von einem ‘Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration’ begutachtet werden – ein Gremium, in dem im Wesentlichen wieder dieselben Migrationswissenschaftler versammelt sind, die seit Jahrzehnten die Integrationspolitik beraten und zu ihren Versäumnissen entscheidend beigetragen haben.“ Kelek weiter: „Vor allem durch das von ihnen mit Hingabe verteidigte Bild von den Migranten als ‘Opfer’ – von religiöser Diskriminierung, ökonomischer Benachteiligung und sozialer Ausgrenzung.“

Es seien diese Migrationswissenschaftler, die dazu beitrügen, dass neue Bürger, die aus einer anderen Zivilisation als der unseren stammen, sich überaus bequem zurücklehnen, um darauf zu warten, eingebürgert zu werden. Anforderungen an die Migranten gelten in solchen Kreisen als Zumutung. Die Folge: „Migranten sind und bleiben die unmündigen Mündel einer mal mehr, mal weniger gelingenden, auf jeden Fall aber endlosen Sozialarbeit.“

Die Publizistin und Gesellschaftswissenschaftlerin, die Autorin und Journalistin Kelek schreibt in Tageszeitungen, wird als Expertin geladen, berät die Hamburger Justizbehörde oder den Deutschen Evangelischen Kirchentag. Kelek liebt das gedruckte Wort, liebt die Zeitung und publiziert, da ist sie sicherlich ein Unikum, in den unterschiedlichst positionierten Blättern: In der Berliner „TAZ“, in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, dem Wochenblatt „Die Zeit“, der Frauenzeitschrift „Emma“ oder in der „Frankfurter Rundschau“. Und dies ist nur eine Auswahl.

Am großen Tisch der Islamkonferenz, die soeben im frühen Sommer zu Ende ging, war Necla Kelek stets Gast und ständiges Mitglied.In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ kommentierte Kelek unter der schönen Überschrift: „Erfolgreich gescheitert“: „Nach drei Jahren Islamkonferenz weiß zwar niemand, wofür ‘der’ Islam in Deutschland steht, aber man weiß, was ein Segment von ihm will: Der politische Islam will Schritt für Schritt seine Rechte auf ein religiöses Leben in Deutschland durchsetzen.“ Und sie ergänzt: „Der Innenminister feiert auf dem Plenum der deutschen Islamkonferenz einen Dialog, der nicht wirklich statt fand.“

Natürlich weiten solche Worte nicht die Herzen aller Leser, auch hält sich die Begeisterung nicht weniger vom türkischen Staat gestützter Islamverbände oder mit saudi-arabischen Geldern gepolsterter Moscheegesellschaften in überschaubaren Grenzen. Denn Kelek notiert: „Es ist klar geworden, dass die verschiedenen Islamverbände nicht berechtigt und in der Lage sind, für mehr als ihre eigenen Mitglieder zu sprechen. Von den – neueste Zahlen sprechen von vier Millionen – Muslimen, sind nur die wenigsten in diesen Verbänden organisiert. Vielen sind sie sogar unbekannt.“

Die Aufklärung, jene Epoche und Geisteshaltung, die die Engländer mit dem schönen Wort „Enlightenment“ bezeichnen, also „Erleuchtung“, oder besser noch „Erhellung“, ist mehr als nur ein Zeitabschnitt europäischen Denkens. Aufklärung richtig verstanden, ist ein immerwährender, jede ernsthafte Betrachtung, Kommentierung und Analyse umfassender Prozess.

Rufen wir uns in Erinnerung:

Eine-Welt-Musik, Eine-Welt-Läden, alle Kulturen dieser einen Welt gleichberechtigt Seit an Seit – Schluss mit der engen Geschichtsschreibung aus europäischer Sicht — Welterbe, Weltkunst:

Alles wird gut!

Da können Menschenrechte, wohlgemerkt „können“ nicht „müssen“, zur quantité négligeable werden. Irgendwie sind wir doch alle eins. Sogar Hans Küng, oder gerade er, sucht nach dem Ethos der Weltreligionen:

Verstehen, nicht bewerten!

Gelten lassen, nicht befragen!

Wir haben die Lektion gelernt.

Wenn aber Necla Kelek diese wohlfreie Lektion nicht verinnerlicht, wenn sie also trotzig und ungebeugt über den Islam schreibt und dessen Wirkung in einem modernen Deutschland, einem modernen Europa, bewertet, befragt, dann ist ihr in nicht wenigen akademischen und journalistischen Zirkeln, aber auch in der verfassten und gefassten Welt der Muslimräte, Ablehnung und manches Mal sogar die eine oder andere Schmähung sicher.

Das lässt sich denken in unserer Bundesrepublik.

Vergessen wird, oder man ruft sich dies durchaus absichtsvoll nicht in Erinnerung, dass Aufklärung letztlich immer Religionskritik ist. Fraglos: Diese Aufklärung, primär diese Religionskritik, kann auch im Rahmen eines durchaus lebendigen Glaubens das Denken gestalten. Das Christentum bezeugt dies. Hier in Deutschland könnte Ludwig Feuerbach, als einer von vielen, der Theologie und Aufklärung gegenüberstellte, genannt werden.

Kelek weiß, schreibt und sagt: Der Islam muss sich um diese Aufklärung noch bemühen.

Seit je trugen wir in Deutschland beides in der Brust oder besser in unseren Hirnen: Die Anstrengungen der Aufklärung und die Angst, wie Max Weber schön und folgenreich formulierte, vor der „Abendländischen Rationalisierung“. Es sei das Schicksal unserer Zeit, fürchtete er, mit der uns eigenen Intellektualisierung nur Schnödes zu Erreichen, nämlich, so Weber, die „Entzauberung der Welt“.

Die Publizistin Necla Kelek schlägt hier der Vernunft beherzt eine Gasse. Herbert Schnädelbach, emeritierter Universitätslehrer und Philosoph, sagt: „Sich des Erbes der Aufklärung zu erinnern und uns lebendig zu halten, dazu besteht auch heute Anlass genug. Es war niemals unumstritten und vor allem in Deutschland forderte es immer erneut Stimmen heraus, die lautstark verlangten, sich seiner zu entledigen.“

Wir Deutschen bedürfen, dies ist auch ohne solches Zitat zweifelsfrei, der Stimme der Aufklärerin, der freien Publizistin, der Menschenrechtlerin – nicht Frauenrechtlerin, weil sie einfach mehr im Blick hat, als nur die Lebensumstände des einen Geschlechts – Necla Kelek. „Also wir werden“, schrieb sie, „die strukturellen und ideologischen Hindernisse der Integration nicht beseitigen, wenn wir einem ‘Wunschdenken’ über den Islam verhaftet bleiben, das Gewalt nur als ein Problem von Extremisten oder als falsche Auslegung einer an sich richtigen Lehre sehen will. Wenn wir die kulturellen Differenzen nicht benennen, wird über die Integrationshindernisse weiter der Schleier gebreitet“.

Wir haben uns weggeduckt und behauptet: Nein, ein Einwanderungsland sind wir nicht. Keinesfalls!

Wir haben uns – müde und satt – eingerichtet in einem grauköpfigen Staat: Lass’ doch die anderen Kinder bekommen!

Und als sie gekommen sind, die Kinder aus der Türkei, Arabien, Persien und aus dem weiten Afrika, sagten wir über die von uns sozialpädagogisch so gerne betreuten, aber wohl nur ungern zu eigenen Anstrengungen aufgerufenen: Die werden‘s schon richten!

Dabei bräuchten wir Deutsche, wir Europäer, jeden: Kind, Mann und Frau. Bräuchten rundum gebildete Bürger und allemal sprachmächtige, informierte, lernfrohe Schüler, Studenten, Auszubildende. Egal ob Moslem, Christ, Freigeist, Hindu.

Wir können auf keinen verzichten, keinen einzigen.

Nicht zuletzt deshalb müssen wir dankbar sein, für die Schriften, die Analysen, die Meinungen und die Bücher der Frau, die Istanbul verließ und in Berlin heimisch wurde:

Der Hildegard-von-Bingen-Preis 2009 geht an die streitbare, kluge und mutige Journalistin, Buchautorin und Kommentatorin Necla Kelek.

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