Chaim Noll / 10.09.2020 / 16:00 / Foto: Freud / 18 / Seite ausdrucken

Helfen: Apartments für Überlebende der Shoah

In Israel gibt es heute noch etwa 200.000 Holocaust-Überlebende. Juden aus aller Welt, älter als fünfundsiebzig Jahre, Menschen wie mein Freund Jakob, der 1944 in einem Versteck in den polnischen Wäldern geboren wurde, oder inzwischen hoch in den Neunzigern Stehende, die, als Nazi-Deutschland unterging, Anfang zwanzig waren.

Um 2015, anlässlich des siebzigsten Jahrestages der Befreiung der Konzentrationslager, beschäftigten sich die israelischen Medien intensiv mit der Situation dieser alten Menschen, die in vielen Fällen in dürftigen und unwürdigen Umständen lebten. Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen berichteten über Fälle von Armut und Verlassenheit, vor allem über Wohnungsprobleme, da die israelischen Immobilienpreise und Mieten ständig steigen. Für ältere Einwanderer aus der früheren Sowjetunion sind die heute in israelischen Großstädten üblichen Mieten oft unerschwinglich. Die israelische Regierung wurde heftig kritisiert, weil sie zu wenig zur existenziellen Sicherung von Überlebenden der Shoah getan hätte.

Daher ist es nur fair, darüber zu schreiben, wie sich der israelische Staat seither bemüht, die Lage dieser alten Menschen zu verbessern. „Israel’s government allocated a record 5.5 billion shekels ($1.6 billion) to all survivors of persecution in 2019“, berichtete die Nachrichtenagentur Reuters zu Beginn dieses Jahres, am 27. Januar 2020. Ein Teil dieser Bemühungen ist das Amigour-Programm des israelischen Spendenfonds Keren HaYesod, das bedürftigen Shoah-Überlebenden Wohnungen zur Verfügung stellt, für eine symbolische Miete von monatlich 300 Shekel, etwa 75 Euro. Im Rahmen dieses Programms werden derzeit im ganzen Land 57 Apartmenthäuser gebaut oder aufwändig rekonstruiert, in denen 7.500 alte Menschen ein würdiges, von dringenden Sorgen freies Leben führen können, zudem in einem Netzwerk sozialer Aufmerksamkeit, das allmorgendlich mit einem  „Guten-Morgen-Anruf“ der Direktion beginnt, der sowohl Empathie vermittelt wie eine dezente Kontrolle im Fall gesundheitlicher Zwischenfälle bei den meist hochbetagten Bewohnern.

2.650 Apartments sollen neu gebaut werden

Die Apartments sind nicht groß, doch in bestem Zustand, modern ausgestattet, mit Kitchenetten, Balkons und für die Bedürfnisse alter Menschen konstruierten Bädern. Jede Etage verfügt – in Israel unvermeidlich – über einen geräumigen, bombensicheren Schutzraum, der bei Beschuss, etwa durch Raketen der Hamas oder Hisballah, aufgesucht werden muss. Die Bewohner leben für sich und versorgen sich selbst, finden aber in zahlreichen Gesellschaftsräumen, Gymnastik- und Musikzimmern, in der an ein Hotel erinnernden Lobby, in parkartigen Vorplätzen und Innenhöfen jederzeit Gesellschaft. Während der Corona-Monate wurde in diesen Höfen Musik oder Theater gespielt, um die alten Leute zu unterhalten.

Die derzeit laufende Initiative zur Vergrößerung und Modernisierung der bestehenden Einrichtungen baut um die alten Gebäude neue, weiträumigere, fügt Flügel hinzu, stockt weitere Etagen auf und versieht sie mit eleganten Fassaden, da in israelischen Großstädten wie Tel Aviv oder Haifa kaum noch freie Baugrundstücke verfügbar sind. Anderswo, in kleineren Orten oder im Süden des Landes, kann man neu bauen. 2.650 solcher Apartments sollen im derzeit laufenden Programm neu gebaut werden. Von den anfallenden Baukosten trägt der israelische Staat 40 Prozent, rund 145 Millionen Shekel, weitere 40 Prozent werden von der Jewish Agency durch Kredite finanziert (wobei der Staat hier nochmals mit Kreditsicherungen und bei der Tilgung einspringt), und knapp 20 Prozent hofft man, durch Spenden aufzubringen.

In Beer Sheva, der Gebietshauptstadt der Negev-Wüste im Süden Israels, sollen in dem für 120 Apartments projektierten Neubau mehrere Etagen nach Fritz Bauer benannt werden, dem hessischen Generalstaatsanwalt, der in der Bundesrepublik der frühen 1960er Jahre nach internen Kämpfen gegen im deutschen Justiz-Apparat noch immer dominierende Nazi-Juristen die Auschwitz-Prozesse in Gang brachte. Für das Fritz-Bauer-Projekt wird im Sepember 2020 in Deutschland ein Crowd funding veranstaltet. 

Wer möchte, kann eine Spende richten an Keren Hayesod, Frankfurter Sparkasse, Frankfurt/Main, IBAN: DE84 5005 0201 0200 5454 50, BIC: HELADEF1822, Verwendungszweck; Fritz Bauer Project. Online-Spenden sind ab dem 10. September hier möglich

Der Text erschien zuerst in der Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung am 10. September 2020.

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Stefan Bäuerle (Melchisedech) / 10.09.2020

Herzlichen Dank für diesen Aufruf! Ich habe gespendet - mit Tränen in den Augen.

Hans-Peter Dollhopf / 10.09.2020

“Blicke auf zum Himmel und zähle die Sterne, ob du sie zu zählen vermagst!” Millionen gefallener Sterne. Abram aber war 75 Jahre alt, als er von Haran auszog . . . Abraham und Sara waren jedoch alt und hochbetagt, so daß es Sara nicht mehr erging, wie es den Frauen ergeht. Da lachte Sara in sich hinein, indem sie dachte: Nachdem ich welk geworden bin, sollte ich noch der Liebe pflegen? und mein Gemahl ist ja auch alt . . . Abraham aber war hundert Jahre alt, als ihm sein Sohn Isaak geboren wurde.

Volker Kleinophorst / 10.09.2020

Bei aller Freundschaft. Es gibt noch 200.000 Holocaustüberlebende allein in Israel? Da stolpert niemand drüber?

Anya Reyem / 10.09.2020

Herzlich gerne, verehrter Herr Chaim Noll! Morgen sofort werden wir spenden für dieses kluge, sinnvolle , herzwärmende Projekt! Danke für dessen Vorstellung! Guten Abend, A.R.

Andreas Rühl / 10.09.2020

Die Idee ist gut. Aber…. So alte Menschen, wir reden von einer Zeit bis 1945, brauchen doch mehr als ein Dach über dem Kopf. Pflege, zumindest Betreuung bei täglichen Besorgungen und so weiter. Sie versorgen sich selbst…. Das erscheint mir blauäugig. Wie sieht es damit in Israel aus?

Volker Altenähr / 10.09.2020

Vielleicht sollten unsere Politiker mal darüber nachdenken ein paar Euro für das Projekt locker zu machen anstatt ständig “Schutzbedürftige” ins Land zu lassen insbesondere solche, die Todfeinde Israels sind. Was sich zur Zeit abspielt (Stichwort “Moria”) ist ein Stück aus Absurdistan. Aber der Irrsinn hat Methode und unser dämliches Volk macht alles mit.

Gottfried Solwig / 10.09.2020

Das ist für mich bis heute unbegreiflich, dass diese Opfer keine Rente von der Bundesrepublik erhalten. War mir lange Zeit gar nicht klar, den ich war mir zu 100 % sicher, dass Opfer des Nationalsozialismus für das erlittene Leid entsprechend entschädigt werden. Es ist sonst für alles und jeden Geld da.

K.Bucher / 10.09.2020

Sehr geehrter Herr Noll .Das finde ich eine Großartige Idee . Für mich sind Sie schon länger eine Große Stütze hier auf Achgut .Auch Ihre Beiträge immer wieder Große Klasse , ohne wenn und aber . ich bin einer der normal nicht viel lobt , aber in Ihrem Fall mal eine verdiente Ausnahme .ich wünsche Ihnen Alles Gute in der Zukunft !

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