Gunter Weißgerber / 02.03.2017 / 15:51 / Foto: Ecureuil / 11 / Seite ausdrucken

Hamburger Bürgerschaft: Absturz eines Parlaments

Einst stand es in den Statuten der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“:

„Wir Thälmannpioniere lieben die Wahrheit, sind zuverlässig und einander freund. Wir streben immer danach, die Wahrheit zu erkennen, und treten für den Sozialismus ein. Wir erfüllen die von uns übernommenen Aufgaben und stehen zu unserem Pionierwort. Wir sorgen dafür, daß unsere Gruppe eine feste Gemeinschaft wird, und helfen kameradschaftlich jedem anderen Schüler.“

1989 sollte das Geschwurbel ad acta gelegt werden. Wurde es das? Informiere ich mich über die jüngste Groteske in der Hamburger Bürgerschaft, dann bin ich sicher, die Untoten sind noch immer sehr lebhaft unter uns.  In freier Übersetzung auf den Rauswurf des freigewählten Abgeordneten Ludwig Flocken in der Hamburger Bürgerschaft gemünzt heißt das: „Wir, die Bürgerschaft von Hamburg, helfen unserem Genossen Flocken auf den richtigen Weg. Damit er das endlich begreift, muss er vor die Tür!“

An keinem Punkt wird die Wehner-Strauss-Grenze überschritten

Auch bei genauer Betrachtung seiner Formulierungen überschreitet der Mann an keinem Punkt die parlamentarische Wehner-Strauß-Sprachgrenze. Zitat: „Sie alle kennen die Bilder von Merkel nach ihrem letzten Wahlsieg wie sie Fahne wegschmeißt und ihr der Ekel ins Gesicht geschrieben steht“. Wo bitte ist das überzogener als Wehners „Hodentöter“ zum  Abgeordneten Todenhöfer?  Oder wo bitte spricht Ludwig Flocken überzogener als Franz Josef Strauß: „Ich bin der Sohn meines Vaters, Sie sind der Amtsnachfolger Stalins(Zu Leonid Breschnew am 6. Mai 1978 in Bonn)?

Wo lügt der Abgeordnete Flocken? Als Flocken einen Vorfall von vor neun Jahren ansprach, als Teilnehmer eines Kongresses der Grünen Jugend auf eine Deutschlandfahne uriniert hatten, sagte Flocken unter Protest anderer Mitglieder der Bürgerschaft: „Die Bilder gibt‘s doch!“ (Die Welt).

Vor kurzem war es noch üblich, dass man solche Verfehlungen im Parlament ansprach. Seit wann ist die Artikulation des Vorwurfes der „Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole“ ein parlamentarisches Vergehen? Ist nicht vielmehr die vor neun Jahren unterlassene Klage gegen diese Verunglimpfung der eigentliche Skandal?  Die Hamburger Bürgerschaft ist damit in ihrem Verständnis, von dem was gilt und dem was nicht zu gelten hat, nicht mehr weit vom DDR-Sangesverlust der eigenen NationalhymnePotjemkin lässt grüßen.

1989 errangen die Ostdeutschen zuerst den öffentlichen Raum für sich, das Demonstrationsrecht war wiedergeboren, politische Forderungen wurden nachdrücklich postuliert und gewaltige politische Prozesse in Gang gesetzt. Freiheit, Demokratie, freie Wahlen und Deutsche Einheit waren die Folge. Für die meisten Ostdeutschen war die Meinungsfreiheit damals grundsätzlich. Alle Informationen mussten zugänglich sein, alle Argumente mussten bekannt sein, die freie Rede musste erlaubt sein, demokratische Entscheidungen sollten immer möglich sein. So stellte sich DDR-Otto-Normalverbraucher 1989 die Demokratie vor.

Was erlebt dieser Normalverbraucher heute? Informationen werden bei ARD und ZDF gesiebt, sogar die freie Rede wird in Parlamenten behindert. Dabei sind es doch die Parlamente, in denen die Bevölkerung repräsentativ diskutieren soll. Parlamente, die das von sich aus nicht mehr gewährleisten, schaffen sich und die Demokratie ab. Parlamentspräsidentin Carola Veith wollte Gutes bewirken und hat doch nur ein Gespenst geschaffen: Das Gespenst des Einheitsparlaments.

Die Hamburger Bürgerschaft sollte sich auch bei  eher abseitigen Parteien und Abgeordneten an Voltaire halten. So wie es jedes Parlament in Deutschland seit der freigewählten Volkskammer 1990 mit Linksaußen gleichfalls handhabte.  Nicht nur weil er was Kluges sagte, sondern weil dieses Kluge eine Grundlage der offenen Gesellschaft mit ihrer repräsentativen Demokratie ist:

„Das Recht zu sagen und zu drucken, was wir denken, ist eines jeden freien Menschen Recht, welches man ihm nicht nehmen könnte, ohne die widerwärtigste Tyrannei auszuüben. Dieses Vorrecht kommt uns von Grund auf zu; und es wäre abscheulich, dass jene, bei denen die Souveränität liegt, ihre Meinung nicht schriftlich sagen dürften.“ (Voltaire)
 

Foto: Ecureuil CC BY 3.0 via Wikimedia

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Jochen Brühl / 02.03.2017

Frau Veith ist zweifelsohne für das Amt der Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft völlig ungeeignet und müsste zurücktreten. Da sie das natürlich nicht so sehen wird und sich wahrscheinlich noch als Retterin des politischen Anstands wird feiern lassen wollen, wird Herr Flocken wohl beim Verfassungsgericht die Verletzung der Neutralitätspflicht dieser Dame aus ihrem Amt heraus feststellen lassen müssen.

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