Wenn die Unesco nicht alles Wesentliche verschlafen würde, hätte sie die europäischen Staatsgrenzen schon längst zum Weltkulturerbe erklärt. Denn Grenzen sind etwas Schönes und Bewahrenswertes, Traditionsreiches und Zukunftsweisendes. Sowohl in ihrer abstrakten Gestalt von Linien auf der Landkarte als auch in ihrer konkreten Erscheinung mit Schlagbäumen und Wachhäuschen tragen Grenzen auf vielfältige Weise zur Zivilisierung der Menschen und zu einem respektvollen Umgang der Völker miteinander bei.
Das Überschreiten einer Grenze ist ein lebensphilosophischer Akt. Ein großer Teil aller Kulturanstrengungen besteht in Transgressionsritualen; der Mensch möchte die Seite wechseln, er strebt in die Fremde, die Anderwelt, und die Grenze ist der Ort, der diese köstliche Erfahrung des Übergangs und der Verwandlung beglaubigt. Die üblichen Kontrollprozeduren – Ausweis vorzeigen, die stereotypen Fragen der Zöllner, der prüfende Blick, das leichte Unwohlsein, das einen befällt – all diese praktischen Details sorgen für eine gefühlsmäßige Erhöhung dieses Augenblicks.
Das ganze europäische Pathos der Verschiedenheit, die ewige Beschwörung kulturellen Reichtums hat in der Grenze ihren wichtigsten Erfahrungs- und Erfüllungsort. Hier wird Metaphysik zu Geographie: Länder stoßen auf theatralische Weise aneinander, und meist bleibt zwischen ihnen ein magischer Streifen, der schon die Phantasie von Kindern beschäftigt – das Niemandsland.
Mit der Abschaffung der Grenzkontrollen genauso wie der Landeswährungen ist zwar ein flüchtiger Komfort verbunden, ein minimaler Zeitgewinn, eine Illusion von Freiheit, aber mindestens ebenso schwer wiegt der Verlust jenes aufregend zwiespältigen Erlebnisraumes, den die Grenze schafft. Dazu gehört zum Beispiel eine Form von Staatsromantik, der Auftritt von bewaffneten Beamten, deren Zuständigkeit aber zentimetergenau endet. Jeder, der diese spaßfreie Zone betritt, spürt geradezu körperlich das Gewicht der Geschichte: hier haben die Nationen in historischem Ringen einen existentiellen Kompromiß geschlossen und ihren Grenzverlauf festgelegt.
Wenn man die Grenze dann überquert, macht sich ein helles, triumphales Gefühl des Zugelassenseins breit, die Freude der Fremdheit erfüllt das Bewußtsein und gibt dem banalen Akt der Fortbewegung einen feierlichen Glanz. Das alles bewirken Grenzen: sie stiften Identität und veranschaulichen Differenz – zwei hohe Güter in einer zunehmend globalisierten Welt, die bloß noch kontinentale Wirtschaftsräume kennt.
Damit es hier kein Mißverständnis gibt: alles Gesagte gilt natürlich nur für die gemütlichen Grenzen in einem friedlichen Europa. Die Rede ist nicht von Todesstreifen à la DDR. Aber seit Schengen wissen wir, daß das Reisen über Grenzen, die man nicht sieht und spürt, einer gewissen Erhabenheit entbehrt.