Burkhard Müller-Ullrich / 17.05.2019 / 14:00 / Foto: FORTEPAN/MHSZ / 2 / Seite ausdrucken

Er ist wieder da. Eine kleine Sozialgeschichte des Heuschnupfens

Krankheiten sind immer demütigend, aber es gibt Unterschiede. Was ist zum Beispiel mit einem Leiden, das so unseriös erscheint wie eine Blütenpollenallergie? Im Gegensatz zu Knochenbruch, Organschaden, Viren- und Bakterienbefall oder Tumoren haben wir es hier mit einem Leiden am Frühling zu tun. Wenn das, bitteschön, nicht lächerlich ist! Schleimhäute, die überempfindlich gegen Blumen sind! Und die demütigende Mengen von Schleim sekretieren.

Peinlich ist am Heuschnupfen nämlich nicht nur der dürftige Leidensgrund, sondern auch die äußere Erscheinungsform. Schon der jedes Antlitz entstellende Vorgang des Niesens, verbunden mit einer die Grenzwerte des Anstands weit übersteigenden Lärmemission, schon die eruptive Plötzlichkeit des ganzen Vorgangs, verbunden mit dem Zutagetreten von Rotzfäden und Tränen, das alles macht den Krankheitszustand regelrecht beschämend.

Vor ein paar Jahrzehnten, als es noch nicht zum guten Ton gehörte, laktosefreie Milch zum Caffè latte zu verlangen und Allergien gegen Hausstaub, Katzenhaare und Haselnüsse zu pflegen, wurde man als Heuschnupfenpatient durchaus scheel angesehen. Der Begriff „Zivilisationskrankheit“ hing einem an wie eine Narrenschelle, denn bitteschön: Wer sich vor dem Erwachen der Natur an den ersten warmen Tagen des Jahres und vor dem lang ersehnten Sonnenschein am liebsten in fensterlosen Räumen verkroch, der hatte offenbar nicht alle Tassen im Schrank.

In der Tat sind Allergien nicht zuletzt deshalb peinlich, weil es sich um einen irren Krieg des Körpers gegen sich selber handelt. Die T-Lymphozyten rasten aus, weil sie harmlose Stäubchen für feindliche Fremdkörper halten. Schnupfen ist übrigens nicht ganz die treffende Vokabel für das, was dann passiert: eine maßlose Juck-Folter überkommt den Patienten; er möchte sich seinen Rachen bis in die Gehörgänge hinein aufschaben, so fordernd ist das Bedürfnis, sich inwendig zu kratzen. Doch diesem Bedürfnis nachzugeben, macht die Sache nur schlimmer. So wie das Niesen zwar eine geradezu orgiastische Entladung darstellt, aber das niesreizauslösende Entzündungsgefühl von Mal zu Mal bloß steigert.

Inzwischen sind Allergien das ganz große Ding in der modernen Welt geworden. Diejenigen, die keine haben, müssen sich schon fragen, ob es ihnen generell an Sensibilität gebricht. Man kultiviert seine Überempfindlichkeiten und beugt die Mitmenschen unter das Joch seiner Idiosynkrasien. Zu Besuch kommen? Unmöglich! Eure Tochter hat doch ein Kaninchen! – Ein Abendspaziergang? Da ist schon zuviel Feinstaub in der Luft! – Speisen im 3-Sterne-Restaurant? Erstmal werden Unverträglichkeiten abgefragt!

Exotische Allergien gehören heute unbedingt zur mondänen und urbanen Lebensform. Dagegen ist der banale Heuschnupfen so etwas von 20. Jahrhundert.

Foto: FORTEPAN/MHSZ CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

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Johannes S. Herbst / 17.05.2019

Jetzt mal was Ernstes. Möglicherweise ist Heuschnupfen eine Zivilisationskrankheit, die wie alle anderen eine Unrsache haben könnte: Insulinresistenz. Weil wir laufend immer etwas zu uns nehmen, und unserem Körper keine Ruhepause bei der Nahrungsaufnahme gönnen, bleibt der Blutzuckerspiegel und damit der Insulinspiegel immer hoch. Wegen des andauernden Beschusses der Körperzellen mit dem Hormon Insulin, werden sie resistent und reagieren nicht mehr auf das Kommando, Nährstoffe aufzunehmen. Zugleich fehlt unserem Körper der Zustand, dass zeitweise keine Nährstoffe vorhanden sind und dass das Vorhandene zuerst einmal auf gebraucht und recycelt wird. Mich würde mal wirklich interessieren, ob es Menschen gibt, die viele Stunden und manchmal sogar Tage ohne Essen verbringen und dann immer noch Heuschnupfen haben.

Joachim Neander / 17.05.2019

Allen Schnupfenallergikern zur aufmunternden Lektüre empfohlen. “Auch einer” von Friedrich Theodor Vischer.

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