Einer alten Gewohnheit folgend, lande ich beim Durchblättern des Deutschen Ärzteblatts auch heute noch gelegentlich bei den Stellenanzeigen. Jüngst stieß ich dabei auf ein Inserat (Heft 9/2021) der städtischen Münchner Kliniken (MünchenKlinik), die eine(n) „Ärztin/Arzt für ein Schulungsprojekt im Bereich Gendermedizin im Notfallzentrum (w/m/d)“ für 20 Std./Woche suchen, befristet auf drei Jahre. Wozu soll das gut sein? „Zur Erstellung und Durchführung eines Schulungsprogramms über geschlechterspezifische Aspekte der notfallmedizinischen Versorgung für alle an der Notfallversorgung beteiligten Berufsgruppen im Bereich der Stadt München“. Gemeint sind damit im Wesentlichen Ärzte und Pflegepersonal.
Leser, die sich unter Gendermedizin nicht so recht etwas vorstellen können, finden hier einige weiterführende Erläuterungen; für potenzielle Bewerber gilt dieser Link. Aber Obacht: Die dortige Behauptung, „Geschlechterunterschiede bei Gesundheit und Krankheit sind bedeutender als bisher angenommen“, hört sich zwar gut an, ist aber reine Propaganda, also ohne gesichertes wissenschaftliches Fundament. In Wirklichkeit ist dieses Thema ein alter Hut. Was wiederum nicht heißt, dass es hin und wieder nicht doch noch neue Erkenntnisse gibt.
Wenn die Fachreferentin für Gendermedizin in der MünchenKlink, Dr. Hildegard Seidl, interessanterweise eine Volkswirtin und promovierte Humanbiologin, befiehlt, „(a)ktuelle wissenschaftliche Forschungsergebnisse [zur Gendermedizin] müssen laufend zur Kenntnis genommen werden“, impliziert das zuvorderst eine, ebenfalls nicht belegte, Behauptung: Ärzte würden dazu neigen, diese Forschungsergebnisse systematisch zu ignorieren. Die Lösung dieses Problems soll nun darin bestehen, ihnen den Stoff mittels verbindlicher Schulungen einzubimsen.
Auf dem Stand der Fachdiskussion
Nun ist es aber geradezu ein Wesenszug der Medizin, dass ihre Akteure sich immer wieder den Stand der Fachdiskussion anzueignen haben, was das Fach in Verbindung mit dem raschen Wissensfortschritt und der gleichzeitigen Nähe zu Tod, Gesundheit, Leiden und Behinderung so ambitioniert macht. Allerdings kommt es angesichts der Publikationsflut von „wissenschaftlichen Forschungsergebnissen“ weniger darauf an, sie zur Kenntnis zu nehmen, als vielmehr die Spreu vom Weizen zu trennen und bei bestimmten Problemen vielleicht besser eine Bestätigungsstudie oder zumindest die Meinung von ausgewiesenen Experten zu diesem Thema abzuwarten.
In ihrem Bestreben, auf dem aktuellen Stand der jeweiligen Fachdiskussion zu bleiben, benötigte die Medizin bisher allerdings keine Erziehungsversuche in Form von Schulungen – schon gar nicht durch irgendwelche Genderaktivisten. Und wer sollte sich sonst auf so eine Anzeige melden? Vielleicht auch noch einige Kandidaten, die sich vom harten Krankenhausalltag überfordert fühlen und jetzt den Kollegen mal zeigen können, wo der Genderhammer hängt. Ignoriert wird von der Referentin für Gendermedizin und ihrer Vorgesetzten, einer Juristin, dass im Krankenhaus – wo ja das Gros der Ärzte die Facharztweiterbildung absolviert – bereits eine meist gut funktionierende Fortbildungskultur etabliert ist. Speziell dem Facharztnachwuchs helfen diesbezüglich Oberarzt- und Chefarztvisiten. Ansonsten wären noch zu nennen: interne Fortbildungen, die Lektüre von Lehrbüchern, Fachzeitschriften und Leitlinien, die Facharztprüfung und vor allem die Vorbereitung darauf sowie der Besuch von teils verpflichtenden Fortbildungsveranstaltungen oder Kongressen – nicht zu vergessen das gelegentliche kollegiale Gespräch zwischendurch.
Fehlendes Vertrauen
Wieso vertrauen die Gendermedizin und ihre Vorkämpfer nicht auf diese bewährten Fortbildungsinstrumente, sondern beabsichtigen stattdessen, ausgerechnet die ärztlichen Kollegen in den Notfallzentren – wo der Zeit- und Entscheidungsdruck besonders hoch ist – mit ihren Schulungen zu traktieren? Warum wird nicht – bis zum Beweis des Gegenteils – davon ausgegangen, dass die ärztlichen Kollegen die für ihre Arbeit relevanten Unterschiede zwischen Männern und Frauen kennen und beherzigen und die oben genannte Fortbildungskultur auch bei diesem Problem hilft, auf dem aktuellen Stand zu bleiben?
An Tatsachen sind die Protagonisten der Gendermedizin eher wenig interessiert. Für sie reicht der Glaube, etwas zu wissen: dass die medizinischen Unterschiede zwischen Mann und Frau von ganz besonderer, geradezu einzigartiger Ausprägung und Relevanz sind und diese Unterschiede von der immer noch männerdominierten Medizin natürlich systematisch ignoriert werden. Kurz gesagt: Die Frauen sind mal wieder Opfer, und dieser Status rechtfertigt in Verbindung mit der ganz besonderen Wichtigkeit des Anliegens spezielle Interventionen.
Das Übliche reicht bei diesem Abgrund von Geschlechterungerechtigkeit nicht mehr aus. Und das Verlockende dabei: Ist ein Gender-Schulungssystem erst einmal etabliert, ergeben sich doch praktisch von alleine weitere Unterrichtsthemen, wie kultursensibles, diskriminationsfreies Verhalten gegenüber Migranten und „Diversen“ oder auch die klimabewusste Verordnung von Medikamenten. Schließlich hinterlässt auch jede Tablette oder Infusion einen CO2-Fußabdruck.