Manfred Haferburg / 17.11.2019 / 10:00 / 9 / Seite ausdrucken

Gelbwesten – ein Jahr Aufstand der sozial Schwachen in Frankreich

Gestern früh werde ich durch Martinshorngeheul geweckt. Viele Martinshörner – Schreck, lass nach – ein Attentat? 

Dann wird mir klar: Heute ist Samstag, der 16. November, Jahrestag des ersten Aufstandes der Gilets Jaunes in Frankreich. Seither gab es jeden Samstag Gelbwestenproteste. Es gab hunderte Verletzte. Alle Seiten sind erschöpft, die Demonstranten, aber noch mehr die Polizei. Mehr als 50 Selbstmorde von französischen Polizisten in einem Jahr sprechen eine eigene Sprache. Die Kosten der Einsätze sind unermesslich und hätten wahrscheinlich gereicht, um viele der sozialen Probleme zu lösen, wegen derer demonstriert wird. 

Ein Blick aus dem Fenster: Es sind die Kolonnen der Gendarmerie, die mit Sirenengeheul zu ihren Einsatzorten rasen. Dann noch eine außergewöhnliche Eskadron, bestehend aus ungefähr 200 Polizeimotorrädern. Sie sind besetzt mit jeweils zwei Polizisten, deren Erscheinungsbild eher an Darth Vader erinnert, auch ihre Gesichter sind schwarz maskiert. Die Schnelle Eingreiftruppe, natürlich auch mit Sirenen und Blaulicht.

Ich komme um 10:30 Uhr auf den Champs-Elysées an. Auf meinem Weg bin ich schon auf der Avenue MC Mahon im Vorfeld von Gendarmen kontrolliert worden. Die Luxusgeschäfte haben sich wieder verbarrikadiert. Auch auf der Grande-Armée kontrollieren Gendarmerie-Trios mit Maschinenpistolen die Passanten in Richtung Zentrum. Der Triumphbogen ist eng mit blauen Einsatzfahrzeugen umstellt. Dahinter schwerbewaffnete Gendarmerie, Räumpanzer und Wasserwerfer. Ich sehe hunderte Polizisten und nicht eine einzige gelbe Weste. Doch – ein Straßen-Reiniger im grünen Overall trägt eine Gelbweste, aber die trägt er stets bei seiner Arbeit.

Brennende Barrikaden, Tränengasschwaden

Ich laufe einen großen Kreis. Irgendwo müssen ja die 118 angekündigten Demonstrationen stattfinden? Unten an der Seine gibt es großflächige Absperrungen, die Straßentunnel sind gesperrt, viel Polizei, aber keine Gelbwesten. Am Trocadero tummeln sich viele Touristen, aber wieder keine einzige gelbe Weste. 

Die Nachrichten im Fernsehen berichten von 3.000 demonstrierenden Gelbwesten in der Nähe des Place d’Italie und an der Porte de Champerret. Die Ordnungskräfte haben schon am Morgen fast 1.500 präventive Personenkontrollen und 50 Verhaftungen vorgenommen. Mein TV-Infokanal zeigt brennende Barrikaden und Mülltonnen, Tränengasschwaden, brennende Autos und Baufahrzeuge, eingeschlagene Scheiben. Es fliegen Steine und Flaschen. Es sieht so aus, als gäbe es mehr Randalierer als gelbe Westen. 

Wenn die französische Regierung geglaubt hat, dass sich die Gelbwesten-Bewegung so einfach durch Erschöpfung totläuft, so hat sie sich ein wenig vertan. Die Proteste sind gewalttätiger geworden. Die Lage der Bevölkerung auf dem Land hat sich trotz einiger Zugeständnisse nicht gebessert. Selbst die französischen Intellektuellen begehren auf gegen den Meinungs-Terror an den Universitäten. 

Macrons En Marche und der Front National von Marine Le Pen liegen in den Umfragen gleichauf. Im nächsten Jahr sind Kommunalwahlen. Die Angst muss groß sein.

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beat schaller / 17.11.2019

Danke Herr Haferburg, für diesen realen Bericht aus Frankreich. Ich habe schon länger darauf gewartet. Bezeichnend dabei ist, dass sich “die da oben ” schützen und sie müssen nicht den Bürger schützen. Allerdings gibt das genau den benötigten Platz für Chaoten, die sich im Schutz der Polizei in den entstehenden Nischen ihren “Geschäften” widmen können. Gut, dass Sie auch die Zahlen der Selbstmorde anführen, denn das ist eindrücklicher als vieles. Es zeigt die ganze Tragödie. In diesem Zusammenhang werden auch die vielen Kirchenschändungen, Brandanschläge und vieles mehr einfach ausgeblendet. Frankreich ist mindestens so krank wie Deutschland. Die Vorzeichen sind vielerorts etwas anders, allerdings geht es immer darum, dass sich Politiker in irgend welchen abgehobenen Blasen oder “Königreichen” am Rest der Bevölkerung laben. Einschlafen wird das nicht und hoffentlich haben die Verantwortlichen wirklich angst. b.schaller

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