Gastautor / 14.10.2015 / 08:55 / 8 / Seite ausdrucken

Gehetzte Blicke, fahrige Gesten

Thilo Sarrazin

In diesen Tagen landet in Berlin nahezu jedes Gespräch, das man führt, schon nach wenigen Minuten beim Flüchtlingsthema:

Viele einfache Menschen haben Angst. Sie brauchen nicht lange zu rechnen, um zu wissen, dass Sozialleistungen sich verschlechtern müssen, wenn Millionen ins Land kommen, die sie wahrscheinlich dauerhaft in Anspruch nehmen.

Viele Gutwillige aus den gebildeten Schichten möchten das moralisch Richtige tun und haben Angela Merkel unterstützt, als sie Anfang September die offenen Grenzen noch weiter öffnete. Jetzt, da täglich rund 10.000 Einwanderer aus Nahost und Afrika über die deutschen Grenzen strömen, 80 Prozent von ihnen junge Männer, die bald ihre Familien nachholen wollen, breitet sich auch unter den Gutwilligen Sorge aus. So hatten sie sich das nicht vorgestellt. Aber sie trauen sich auch nicht, eine Schließung der Grenzen zu fordern.

Die Stimmen aus der Wirtschaft, die nahezu täglich riefen, Deutschland brauche Arbeitskräfte, um seinen Wohlstand zu sichern, sind schweigsamer geworden. Unternehmen wollen ausgebildete Handwerker, IT-Fachkräfte oder Ingenieure. Bis die Neu-Einwanderer diese in größerer Zahl stellen können, wird es noch ein bis zwei Generationen dauern.

Lange hatten Politik und Medien die Berichte über Spannungen und Gewalttätigkeiten in den Aufnahmelagern verschwiegen. Besonders tabu waren der Druck und die Anfeindungen, unter denen viele Christen in den Aufnahmelagern leiden. Jetzt sickern aber mehr und mehr lokale Nachrichten darüber auch in die überregionalen Medien.

Es lässt sich kaum noch verbergen, dass sich mittlerweile ganze Zeitungsredaktionen über die Richtung der Berichterstattung und das noch tolerable Ausmaß der eigenen Propaganda streiten. Noch hält der Propagandadamm der Willkommenskultur, der vor allem im deutschen Staatsfernsehen aufgerichtet wurde. Aber es gibt doch immer mehr irritierende Nachrichten, die dazu nicht passen und gleichwohl gesendet werden müssen. Die Blicke der besonders ausgewiesenen Gutmenschen unter den Moderatoren werden gehetzter, ihre Gesten fahriger.

In der CDU/CSU deutet sich ein Machtkampf über das weitere Vorgehen in der Flüchtlingsfrage an. Der stets zuverlässig opportunistische CSU-Chef Horst Seehofer feuert seit einigen Tagen aus München verbale Bereitseiten auf das Berliner Kanzleramt. In der CDU/CSU-Bundestagsfraktion stehen Hinterbänkler auf, die sich seit Jahren nicht zu Wort gemeldet haben, und kritisieren minutenlang die Flüchtlingspolitik. Angela Merkel dagegen schweigt. Sie reist erst zur UNO und unterstützt dort die Nachhaltigkeitsziele für das Jahr 2030, dann reist sie mit einer Wirtschaftsdelegation nach Indien. So wird Normalität vorgeführt.

Dabei war vor wenigen Wochen alles noch so harmonisch gewesen: Als Ende August im sächsischen Heidenau 200 gewalttätige Rechtsradikale die Polizei angriffen, waren sich alle einig. Bundespräsident Gauck sprach in Heidenau unter dem Beifall der Medien vom hellen und dunklen Deutschland und schuf so gleich wieder die Assoziation von Nazi-deutschland und Holocaust, die auch die hartleibigsten Kritiker angstvoll verstummen lässt.

Einen Monat später setzte er in Mainz ganz andere Akzente und sagte: “Wir wollen helfen. Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich ... Wir wollen in diesem Land keinen religiösen Fanatismus. Gotteskrieger müssen wissen: Der Rechtsstaat duldet keine Gewalt.”  Er rief die Staaten und die Europäische Union auf, die äußeren Grenzen zu schützen. “Denn nur so können wir die Kernaufgaben eines staatlichen Ge-meinwesens erfüllen: die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung und letztlich des inneren Friedens.”

In großer Hektik brachte die Bundesregierung im September ein Gesetzespaket zur Beschleunigung von Asylverfahren, zur Ausdehnung der sicheren Herkunftsländer und zur schnellen Abschiebung abgelehnter Bewerber auf den Weg, und der Europäische Rat kündigte ein einheitliches Asylrecht und die Einrichtung von “Hotspots”  an den Außengrenzen der EU an, wo eine Erstprüfung der Schutzbedürftigkeit vorgenommen werden soll.  Auch stellte er 1 Mrd. Euro für die Flüchtlingslager in Syrien und der Türkei zur Verfügung.

So bewegt sich Vieles gegenwärtig in die richtige Richtung. Aber es kommt zu spät, zu langsam, in zu geringer Dosierung. Vor allem aber setzt es nicht am grundsätzlichen Problem an, das ich wie folgt umschreibe:

Achtzig Prozent der Menschen auf der Welt leben in Ländern, deren politische Systeme und gesellschaftliche Verhältnisse grundsätzlich einen Asylanspruch in Deutschland begründen könnten. In diesen Ländern sind auch die wirtschaftlichen Verhältnisse für die Mehrheit der Menschen weitaus schlechter als die Lebenslage eines Sozialhilfeempfängers in Deutschland.

Sie haben deshalb mehrheitlich einen Anreiz, nach Europa aufzubrechen. Das Asylrecht und der Sozialstaat kommen ihnen dabei entgegen.

Die Verbesserung der Verhältnisse in diesen Ländern bleibt eine herkulische Aufgabe. Sie kann aber im Wesentlichen nur innerhalb dieser Länder geleistet werden. Was Weltbank, UNO und internationale Entwicklungshilfe seit 70 Jahren nicht geschafft haben, wird jetzt schon gar nicht kurzfristig möglich sein.

Alle diejenigen, die sagen, man könne die Flüchtlingsströme nur bei ihren heimatlichen Ursachen bekämpfen, alles andere sei sinnlos oder moralisch abzulehnen, plädieren letztlich dafür, die neue Völkerwanderung mehr oder weniger passiv hinzunehmen. Die Konsequenz dieser Haltung wollen sie aber weder vor den Bürgern, noch vor den Wählern (und oft wohl nicht einmal vor sich selbst) wahrhaben. Das macht alle darauf beruhende Politik nicht nur irrational und unehrlich, sondern auch erfolglos.

Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche

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Leserpost

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Berthold Bohner / 15.10.2015

Herr Sarrazin bringt die Situation in aller Kürze auf den Punkt. Es wird schwer sein mit sachlichen Argumenten zu widersprechen.

Marc Jenal / 15.10.2015

Es gab eine lange Zeit in der vernünftiges Handeln, Meinungsfreiheit und -vielfalt, eine offene Diskussion, Abwägen der Argumente auch von Politikern und anderen Grössen der Gesellschaft als erstrebenswert angesehen und gegen verschiedene Widerstände hart erkämpft oder verteidigt wurden. Die Werte von Kant und Voltaire waren vielen v.a. gebildeten Menschen ein alltäglicher Begriff und Ziel. Es war auch nicht falsch zu eigenen Grundwerten zu stehen und sich klar gegenüber unerwünschten Werten aus andern Kulturen abzugrenzen. Man kann nur hoffen dass die vergangenen Jahre als kurzer Irrweg Europas in die Geschichte eingehen, wichtige Grundwerte denen unsere Vorfahren ihren Erfolg zu verdanken haben daraus gestärkt hervorgehen und von einem Grossteil der Gesellschaft wieder hochgehalten, gepflegt und verteidigt werden. Wenn man einigen Politikern/Medienberichten zuhört, braucht es dafür offensichtlich noch einige Jahre des Irrlichterns und eine Erhöhung des Leidensdrucks.

Hjalmar Kreutzer / 14.10.2015

Verehrter Herr Sarrazin, nichts gegen die Zürcher Weltwoche. Schade ist es dennoch, dass dieser Artikel nicht in der FAZ oder SAZ oder WAZ oder WELT oder ZEIT erscheint oder gar auf tagesschau.de. In letzterem Fall würde ich sogar freiwillig und nicht nur per gesetzlichem Zwang unter Strafandrohung Rundfunkgebühren zahlen. Freundliche Grüße.

Martin Schulz / 14.10.2015

Da 80% der Weltbevölkerung ohnehin nicht aufgenommen werden können, kann auch sofort mit der Schadensbegrenzung begonnen werden. Sinnvolle Maßnahmen wären z.B.: Kein Bargeld mehr auszahlen, nur noch Sachleistungen gewähren. Unterbringung in geschlossenen Heimen, in denen Arbeitspflicht besteht. Kein Familiennachzug. Schaffung von sicheren Gebieten in den Krisenländern, die von europäischen Truppen geschützt werden. ( oder falls möglich, in Nachbarländern ) Erstellung einer Positivliste von Ländern, deren Einwohner überhaupt einen Asylantrag stellen dürfen. Wer woanders her kommt, ist Tourist. Wer seine Herkunft verschleiert, ist ebenfalls Tourist. Diese einfachen Maßnahmen dürften der Völkerwanderung Einhalt gebieten.

Frank Stricker / 14.10.2015

Werter Herr Sarrazin, allein aufgrund der Tatsache, dass ca. 80 % der Menschheit die Vorraussetzung hätten bei uns Asyl zu beantragen , zeigt die völlig antiquierte Auslegung unseres Asylgesetzes. Unser Asylgesetz ist prinzipiell für Einzelpersonen erdacht worden, wie z.B. ehemalige DDR-Dissidenten oder Verfolgte des russischen Regimes.                                                                Wenn man in der aktuellen Flüchtlingsdiskussion genau hinschaut, geht es ja keineswegs um Asyl, denn die Bundesrepublik ist ja meistens bereits die fünfte oder sechste Station innerhalb Europas. Wenn es den Flüchtlingen ja angeblich nur um die Anerkennung von Asyl gehen würde, dann hätten ja alle bereits in Griechenland, spätestens aber in Serbien Asyl beantragt. Viele Flüchtlinge sehen Europa aber eher als Wunschkonzert, Österreich als Vorspeise, Deutschland als Hauptgang und Schweden als Dessert. Und wir deutschen Deppen spielen dabei noch freiwillig Koch und Kellner und bezahlen die ganze Chose…...........

Dorothea Friedrich / 14.10.2015

Toller Beitrag! Angenommen von den 7 Milliarden Menschen auf der Erde lebten 3 Milliarden in Armut (gemessen am deutschen Wohlstand). Es ist klar, dass es unmöglich ist, allen zu helfen und verantwortungslos, einfach die Grenzen aufzumachen um Völkerwanderungen auszulösen. Verantwortungslos gegenüber den Menschen, die da losziehen und nicht das Erhoffte vorfinden werden und verantwortungslos gegenüber der eigenen Bevölkerung, die nicht einmal gefragt wurde. Warum nehmen wir junge Männer auf, deren Kultur mit unserer nicht kompatibel ist? Wir sollten die im Islamischen Staat vergewaltigten Mädchen aufnehmen, denn diese haben nach der Vergewaltigung keine Familien mehr, die sie auffangen könnten. Im islamischen Kulturkreis sind immer die Frauen schuld an einer Vergewaltigung und werden wegen der “Ehre” oft umgebracht.

Detlef Dechant / 14.10.2015

Richtig, Herr Sarrazin!! Auch Herr Heinsohn hat schon vor längerer Zeit auf die in die Millionen gehende Zahl startbereiter Menschen in Afrika hingewiesen, die sich auf den Weg nach Europa machen könnten. Etwas provokant vielleicht ein Vorschlag zur Bewältigung der Flüchtlingssituation, die Idee kam mir, als ich ein Foto des riesigen sehr komfortablen Zeltlagers für die Mekka-Pilger sah: Ein riesiges Erstaufnahme-Lager auf dem Berliner Tempelhofgelände für alle Neuankommer (männlich ist richtig, da die Mehrheit ja zu dieser Gattung gehört). Dort verbleiben diese bis zur endgültigen Bearbeitung ihrer Anträge. Anerkannte können dann weitereisen. Für die Rückführung der Abgelehnten ist auch schon eine Startbahn vorhanden und Frau Merkel, Herr Gabriel, die öffentlich-rechtlichen Regierungsmedien und andere Gutmenschen können zu Fuß ihre Willkommenskultur ausleben, spart alles viel Umherreisen und Steuergelder.

Mike van Dyke / 14.10.2015

So sieht eine rationale Problemanalyse aus.

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