Jonas Hermann
Nicht vergessen: Es gibt Millionen Fußballverweigerer. Ja hier, in Deutschland
In den dm-Filialen liegt ein Wohlfühl-Magazin aus, das sich stolz mit einem Interview des Bundestrainers schmückt. Die Macher des Blättchens fragen Jogi Löw auch, wie er Fußballverweigerer bekehren würde. Statt diplomatisch zu antworten, entgegnet er: „Gibt es noch Fußballverweigerer?“ Hier würde man gerne einhaken und dazwischenrufen: Gibt es! Und zwar gar nicht so selten, vielleicht sogar jemand aus Ihrer Stadt, aus Ihrer Straße – unglaublich, oder? Eventuell ist es für Löw ja tatsächlich unglaublich. De facto leben in Deutschland aber Millionen Menschen, denen Fußball völlig schnuppe ist. Das beweisen schon die TV-Einschaltquoten, denn während der Spiele der Nationalelf, gucken etwa drei Millionen Zuschauer Serien und Filme. Man muss aber keine Quotenanalyse betreiben, um festzustellen, dass nicht jeder für das runde Leder glüht. Es reicht schon, während eines Deutschlandspiels Zug zu fahren oder vor die Tür zu gehen. Dort wird man einige Menschen sehen, die nicht so wirken, als ob sie es sich gerade heftig verkneifen müssten, die Partie zu verfolgen. Zugegeben – während des Spiels ist in den Geschäften deutlich weniger los als sonst, aber eben nur weniger und nicht gar nichts.
Die Medien hätten es gerne anders. Daher revitalisiert man zu jeder WM oder EM eine lügende Floskel, die sich zombiehaft mit letzter Kraft auf die Titelblätter schleppt: „Ganz Deutschland fiebert mit“, „Ganz Deutschland im Fußballtaumel“. Es stimmt nicht und wird nie stimmen. Es gibt kein Event, bei dem Deutschland irgendetwas kollektiv tut. Nicht mal die Marslandung würden alle glotzen. Was auch ganz gut ist. Irgendwer muss ja den Überblick behalten, wenn die meisten Mitmenschen wie hypnotisiert Großleinwände und Fernsehschirme bestarren.
Seit der WM 2006 geschieht dies ja vorzugweise öffentlich, was eigentlich eine runde Sache ist. Wenn sich die Masse gemeinsam über eine Harmlosigkeit amüsiert, was lässt sich da einwenden? Sogar der besorgniserregenden Geburtenrate hilft das, wie die WM 2006 gezeigt hat, bei der angeblich nicht die Besorgnis, sondern manch anderes erregt wurde. Im Frühjahr 2007 konnte man es überall lesen: Während der Weltmeisterschaft wurden anscheinend überdurchschnittlich viele Kinder gezeugt. Hoffentlich wird keines Schweini oder Poldi genannt, dachte man noch, bis sich die Sache recht schnell als Medien-Märchen entpuppte.
Aber zurück zu Fanmeile und Public Viewing. Gebrüll, Gedränge, Gezapftes, alle aufgepeitscht, alles laut – wie wirkt das auf jemand, der in puncto Fußball leidenschaftslos ist? Etwa so, wie eine Techno-Party oder ein Metal-Konzert für diejenigen, die damit nichts anfangen können. Also, ehrlich gesagt: Eher pfui, als hui. Allerdings sind Technoten und Metal-Hörer über diese Geringschätzung nicht unglücklich. Wenig würde sie nämlich mehr ärgern, als wenn auf ihren Partys plötzlich ihr oberspießiger Nachbar am Tresen lehnen würde, um danach angetüdelt die Tanzfläche zu entern. Anders beim Fußball. Da geht das nicht, da gibt es kein egal. Wer hier gesteht, dass er die Spiele nicht guckt, wird mitleidig gemustert. Kann der denn gar keinen Spaß haben?
Verirrte Spekulation, aber geschenkt und nochmal zu Jogi Löw: Der Nationaltrainer aus dem beschaulichen Südbaden ist ja mitnichten ein Unsympath. Selbst als Provinzsozialisierter sollte er aber diese markige Floskel aus amerikanischen TV-Serien kennen: „Alles, was Sie sagen, kann gegen Sie verwendet werden“. Das gilt nämlich auch für Löws Frage, die sich mühelos umkehren ließe. Statt zu fabulieren, ob es noch Fußballverweigerer gibt, könnte man auch fragen, wieso derart viele Menschen für die Nationalmannschaft schwärmen. Immerhin liegt der letzte Titeltriumph ganze 16 Jahre zurück. In den vergangenen Turnieren hat das deutsche Team stets im entscheidenden Spiel die Nerven in der Umkleidekabine vergessen. Und auch wenn die Boulevardpresse ihn herbeischreiben möchte – es gibt keinen echten Star in der deutschen Elf, niemand wie Messi oder Ronaldo. Aber selbst wenn es den gäbe und Deutschland in letzter Zeit einen Titel abgestaubt hätte: Fußballmuffel bleiben Fußballmuffel – obwohl es wahrscheinlich noch viel uninteressantere Sportarten gibt.