Die USA haben ein weltweit einzigartiges Waffenrecht, Deutschland einzigartige Autobahnen – nämlich welche ohne Tempolimit. Aufschlussreich ist ein statistischer Blick auf die Todeszahlen, die sich aus diesen Alleinstellungsmerkmalen ergeben.
Gleich zwei Amokläufe in den USA innerhalb von gut einer Woche: Einmal zehn Tote, einmal neunzehn. Alle Welt schüttelt über die USA den Kopf. Mal wieder. Wie immer, wenn ein Täter in Amerika gleich reihenweise Menschen erschossen hat. Man fragt sich unwillkürlich: Zum wievielten Mal eigentlich schon in diesem Jahr? Warum schafft man es in Amerika nicht, anders als in den anderen zivilisieren Ländern der Welt, dem freien, unkontrollierten Waffenbesitz für jedermann Einhalt zu gebieten?
Mit fast 400 Millionen ist knapp die Hälfte aller weltweit privat besessenen Waffen in der Hand von US-Bürgern, der Spitzenwert. Die Inder liegen hier mit weniger als einem Fünftel davon (71 Millionen) an zweiter Stelle, sie sind aber auch viermal so viele Menschen. Massenhafter Waffenbesitz und „Mass shooting“ – ein Alleinstellungsmerkmal der US-Amerikaner?
Doch auch über ein anderes Land schüttelt die Welt den Kopf: über Deutschland, auch über ein weltweites Alleinstellungsmerkmal. Anders als in – ebenfalls fast allen anderen hochzivilisierten – Ländern meint man bei uns, ohne generelles Tempolimit auf den Autobahnen auszukommen. Die Nachbarn in Europa kennen das vielleicht ein wenig, wenn sie sich mal auf unseren Schnellstraßen tummeln, ziehen den Kopf ein und sind froh, wenn sie wieder die entspannte Atmosphäre auf ihren heimischen Bahnen erreicht haben. Die meisten jedenfalls. Anders ist es, wenn zum Beispiel jemand aus den USA, dem Land des freien Waffenbesitzes, der solche Hektik im Verkehr nun gar nicht gewohnt ist, im Land der „freien Fahrt für freie Bürger“ auf unsere Autobahn kommt. Der steht dann bisweilen Todesängste aus.
Natürlich gibt es auch Geschwindigkeit-Freunde, die eigens nach Deutschland kommen, um hier ihren Rausch ausleben zu können. Genauso wie es Zeitgenossen gibt, die nach Amerika fahren, um dort unbehelligt herumzuballern.
Was sagt die Statistik?
Auf deutschen Autobahnen stellte man im Jahr 2018 (neuere Daten fand ich in dieser Spezifikation nicht) bei 45 Prozent – also knapp der Hälfte – aller Unfälle auf Strecken ohne Tempolimit eine erhöhte Geschwindigkeit als Ursache fest. Hierbei starben 135 Menschen. Im selben Jahr gab es in den USA 323 Amokläufe, bei denen 387 Menschen erschossen wurden.
Es liegt auch hierbei auf der Hand, die Anzahl der Einwohner zu berücksichtigen. In den USA sind dies viermal so viele wie in Deutschland. Was die Fläche des Landes angeht, ist der Unterschied mit dem Faktor 30 noch krasser. Bringen wir also die USA und die Bundesrepublik für das Jahr 2018 so auf einen Nenner, können wir feststellen: Auch wenn uns die Amokläufe mit Schusswaffen in Schulen, Unis, Supermärkten oder auf Straßen der USA immer wieder tagelang aufregen, zu recht, so ist die statistische Wahrscheinlichkeit, bei so einer Tat drüben umzukommen, nicht einmal so hoch wie diejenige, hüben durch Raserei auf einer deutschen Autobahnstrecke ohne Tempolimit zu sterben. Einmal ganz zu schweigen von den Faktoren Nervenbelastung oder Spriteinsparung.
Die Diskussionen laufen seit Jahrzehnten
Natürlich gehen die Opfer von Schusswaffen in den USA insgesamt in die Tausende, doch wahr nehmen wir solch tödliche Ballereien immer nur bei spektakulären Amokläufen. Und gehen nicht auch die Verkehrstoten insgesamt hierzulande auf allen Straßen (vielfach ebenso der überhöhten Geschwindigkeit geschuldet) in die Tausende? Sie dagegen werden nur in den seltensten Fällen medial wahrgenommen, überregional schon gar nicht. Seit 2018, das sei hier eingeräumt, hat die Zahl der Amokläufe in den USA deutlich zugenommen, nicht zuletzt allerdings aufgrund des Sonderfalls Corona.
Die Diskussionen über beide Alleinstellungsmerkmale hüben wie drüben (freie Fahrt für freie Bürger und freier Schuss für freie Bürger) sind jeweils viele Jahrzehnte alt. Die Waffenlobby in den USA ist da genauso erfolgreich wie die Lobby der deutschen Autoindustrie. Seit Jahrzehnten, und ohne Aussicht auf Veränderung. Höchstens vielleicht mit dem Unterschied, dass die USA ihr Merkmal in der Verfassung festgeschrieben haben. Dies ist in Deutschland beim Tempolimit – noch – nicht der Fall. Nach Lage der Dinge würde es eigentlich passen.
Dabei sind in den USA die politischen Fronten klarer. Waffenkritiker bei den Demokraten gegen Waffen-Fans bei den Republikanern. In Deutschland ist dies längst nicht so eindeutig, wie sich spätestens seit den letzten Bundestagswahlen abgezeichnet hat. Ganz offenbar haben die Gegner des Tempolimits für alle Zeiten nichts zu befürchten.
Die Grünen führen nicht einmal als Regierungspartei ein Tempolimit ein
SPD und Grüne sind die beiden mit Abstand stärksten Regierungsfraktionen im Bund. Seit Jahrzehnten steht in ihren Programmen der Punkt Tempolimit ganz oben. Dennoch schaffen sie es selbst in der jetzt so komfortablen Lage nicht, den Programmpunkt durchzusetzen. Wie immer man dazu steht, pro oder contra – ein schwaches Bild geben sie so in jedem Fall ab.
Nicht nur die FDP dürfte hier der Hemmschuh sein. Winfried Kretschmann, einziger grüner Ministerpräsident, und dies auch noch im Daimler- und Porscheland Baden-Württemberg, war wohl kaum unglücklich darüber, dass ihn kein Zugzwang aus Berlin in Verlegenheit brachte.
Um 400 Millionen Waffen geht es in den USA. Die ukrainischen Kämpfer würden sich womöglich freuen, wenn man auch nur die Hälfte davon einzöge und ihnen schickte. Auch für die 500-PS-Boliden aus Kretschmanns Bundesland gäbe es eine alternative Verwendung: Sie könnten nach Afghanistan oder Nordkorea gehen. Da könnten sie dann rasen, beide Länder kennen ebenfalls kein Tempolimit – dort wohnen und herrschen unsere Brüder im Geiste.