Der 8. März in diesem Jahr ist ein ganz besonderer 8. März. Zum einen, weil er, der „Internationale Frauentag“, nun erstmals als offizieller Feiertag gilt, in Berlin nämlich, da wo in manchen Bezirken erstmal keine Straße mehr nach einem Mann benannt werden darf. Zum anderen, weil das wichtigste Thema, das im Zusammenhang mit dem Frauentag stets anklingt, das Frauenstimmrecht ist. Das gibt es zwar längst in Deutschland, aber eben seit genau 100 Jahren.
Deshalb war es jetzt, rund um den letzten 19. Februar, dem Jahrestag der ersten Wahl mit weiblicher Beteiligung, mal wieder besonders im Gespräch. Was dabei nicht zur Sprache kam: Die ganze Geschichte des Frauenwahlrechts, wann und vor allem wo wurde es überhaupt erstmals eingeführt? In England, dem Mutterland der Demokratie? In der Schweiz, einem anderen Mutterland der Demokratie (mehrere beanspruchen das)? Island, Griechenland (beide dito)?
Weit gefehlt, sehr weit, einmal um die halbe Welt. Das erste Staatswesen im europäischen Kulturkreis oder seiner Diaspora, das das Frauenwahlrecht einführte, war eine Insel im Pazifik, heute die abgelegenste unter den bewohnten im größten Ozean: Pitcairn, bekannt als jenes Eiland, auf dem sich damals die Meuterer von der Bounty nach ihre Freveltat vor der britischen Admiralität versteckten, fast 20 Jahre lang erfolgreich, eben weil es so sehr abgelegen war (und immer noch ist). Auf dem die Meuterer mit einer Handvoll Frauen, die unterwegs noch in Tahiti zugestiegen waren, schnell noch viele Kinder gezeugt hatten, bevor sie sich, gemeinsam mit ebenfalls mitgefahrenen tahitischen Männern, zügig und allesamt (bis auf einen) gegenseitig umbrachten.
Bevor jetzt jemand diese Behauptung mit Pitcairn und dem Frauenwahlrecht für die Spitzfindigkeit eines Journalisten hält, nur weil der mal, vor 30 Jahren, als einer der ganz wenigen Deutschen (die man an einer Hand abzählen kann) für mehrere Wochen auf der Insel weilte und darüber Reportagen schrieb, so möge er bei Wikipedia das Stichwort „Frauenwahlrecht“ anklicken. Dort findet sich die Bestätigung. Es ist schon so, alles amtlich. Aber wie kam es dazu, dass ausgerechnet jenes Staatswesen, das als einziges auf der ganzen Welt auf einer Freveltat von Galgenvögeln basiert – für die einige tatsächlich gehängt wurden –, als erstes das Frauenwahlrecht einführte?
Bizarrerweise wäre die Inselgesellschaft, die heute noch großenteils aus den Nachfahren der Meuterer besteht, vor ein paar Jahren ausgerechnet am Verhältnis zwischen Männern und Frauen beinahe zerbrochen, doch dazu später.
Auf der Seekarte falsch verzeichnet
Nach der Meuterei, bei der sie am 28. April 1789 ihren Käpt’n Bligh samt ein paar Getreuen mitten auf dem Meer, nahe Tonga, in eine offene Barkasse gesetzt und sie so dem fast sicheren Tod ausgesetzt hatten (sie überlebten), kreuzten die Rebellen ein wenig durch Polynesien, scheiterten hier mit Ansiedlungsplänen an den Insulanern, irrten dort weiter und nahmen schließlich wieder Kurs auf Tahiti. Dort nahmen sie die Frauen, die sie bei ihrem halbjährigen Aufenthalt auf der Insel noch vor der Meuterei kennen und lieben gelernt hatten, und noch ein paar weitere Insulaner und Insulanerinnen an Bord. Einige Meuterer blieben auf Tahiti, wurden allerdings wenig später von der Admiralität gefasst und verurteilt. Drei wurden später in Portsmouth gehängt.
Die anderen segelten unter der Führung von Fletcher Christian kurz darauf weiter, gingen auf die Suche – und wurden fündig. Das unbewohnte, isoliert liegende Pitcairn erwies sich als ideal für ein Versteck. Fletcher Christian bemerkte, dass es seit seiner Entdeckung völlig falsch, um 200 Meilen versetzt, auf den Seekarten verzeichnet war. Britische Kriegsschiffe, als sie wenig später nach dem Unterschlupf der Meuterer suchten und alle bekannten Inselgruppen anliefen, hatten deshalb keine Chance, es zu finden.
Die Isolation erwies sich aber auch als Fluch. Als 1808, 19 Jahre nach der Tat, als erstes Schiff ein amerikanischer Robbenjäger die Insel anlief, lebte von den Meuterern nur noch ein Mann, John Adams. Alle anderen sowie die tahitischen Männer hatten sich zuvor in der strengen Einsamkeit, ohne Möglichkeit abzuhauen, manche dem Wahnsinn ausgeliefert, alle gegenseitig umgebracht. Erschossen, erdolcht, erschlagen. Nur noch die Frauen waren da, und jede Menge halbwüchsige Kinder. Als dann die Kunde, dass das Versteck der Bounty-Meuterer endlich gefunden war, nach Europa durchgesickert war, interessierte das dort in den Jahren der napoleonischen Wirren niemand. Die Insel blieb weiter isoliert – und allen möglichen Geschicken ausgeliefert.
Nachdem die Lage der Insel nun bekannt war, stellten sich Besuche ein, darunter üble Gesellen. Missionare für obskurste Bekehrungen, Diktatoren, die ein Mandat der britischen Regierung vorgaukelten und den Tyrannen markierten, Walfänger, Dropouts. Pitcairn war jetzt bewohnt von tahitischen Frauen, die die Massaker der frühen Jahre überlebt hatten, sowie von Heranwachsenden mit polynesisch-britischer Abstammung. Das Gemeinwesen hatte keine staatliche Verfassung, die irgendwelche Traditionen oder Wurzeln vorweisen konnte, von Ordnungskräften ganz zu schweigen. Fast zwei Jahrzehnte hatte man zuvor schließlich keinerlei Außenkontakt. So sahen sich nun viele der Besucher, die von den Winden an die Klippen der Felseninsel herangeweht wurden, dort völlig frei in ihrem Verhalten, fern von jeder Kontrolle.
Die Frauen hatten das Sagen auf der Insel
Die Frauen, nachdem die Männer sich umgebracht hatten, spielten die Hauptrolle, auch wenn John Adams, als einzig Überlebender, nominell der Patriarch war. Er war schwer geläutert und inzwischen streng gläubig, ausgerüstet mit der Bounty-Bibel, stand aber über den Tagesereignissen. Herb Ford, Leiter des „Pitcairn Islands Study Center“ im kalifornischen Angwin, schreibt: „Die Frauen, die 1789 mit den Meuterern angekommen waren, hatten das Sagen auf der Insel, besonders im sozialen Leben.“
Andererseits waren sie ständig bedroht von Schiffs-Mannschaften, die, sexuell ausgehungert und im Glauben, dass es keine Gesetze auf der Insel gab, oft und lange den Insulanern auf die Nerven gingen. Das war auf die Dauer nicht nur bedrohlich, sondern auch lästig. Die jungen Männer hatten bald nichts anderes mehr zu tun, als die Frauen zu schützen, auch als die nächste Generation langsam heranwuchs. Die Feldarbeit, die gesetzten Pflanzen, das Vieh (Ziegen), alles litt darunter so enorm, dass die Nahrungsversorgung fast schon in Gefahr geriet.
Wie gerufen lag dann am 29. Oktober 1838 das britische Kriegsschiff „Fly“ vor der Bounty-Bay, auf deren Grund die Reste des berühmtesten Meuterer-Schiffes lagen. Die Bewohner, zu dieser Zeit 99, baten den Kapitän, Russel Elliott, inbrünstig, ihr kleines Völkchen unter den Schutz der britischen Krone zu nehmen. Als Kolonie. Und bitte mit ordentlichen Gesetzen. Elliot hatte schon bei der Ankunft hocherfreut festgestellt, dass oben in der Siedlung der Union Jack wehte, das Geschenk eines früheren britischen Besuches. Er willigte also ein und arbeitete mit den Inselbewohnern eine Art kleines Grundgesetz aus. Es regelte alles Mögliche, was den Pitcairnern offenbar gerade eingefallen war. § 2 schon beschäftigte sich mit den Pflichten der Hundehalter. In § 3 ging es um Katzen.
Und es ging, natürlich, um die Staatsverfassung, um das Stimmrecht für den Magistrat und den Bürgermeister. Bei den zuvor schon hin und wieder vorgekommenen Abstimmungen über Verantwortlichkeiten waren die Frauen noch nicht beteiligt gewesen. Sie hatten sich auch nicht darum bemüht, „es hatte keine Demonstrationen von Frauen fürs Wahlrecht auf der Insel stattgefunden“, schreibt Ford. Jetzt aber, als alles neu eingerichtet wurde, waren sie, angesichts ihrer so starken Stellung, von den Entscheidungen und Wahlen nicht mehr auszuschließen. Die neue Regel lautete deshalb: An jedem 1. Januar wird ein Magistrat gewählt aus gebürtigen Pitcairnern, und zwar „in freier Wahl von allen gebürtigen Pitcairnern oder mindestens seit fünf Jahren auf der Insel Ansässigen, Männer wie Frauen, im Alter ab 18 Jahren.“
Kapitän Elliott protokollierte alles, und schickte von seinem nächsten Zwischenstopp im peruanischen Callao eine entsprechende Nachricht an die Regierung in London. Dort akzeptierte man Pitcairn als jüngste Kolonie mit den vor Ort beschlossenen neuen Regularien.
Ein Drittel der männlichen Bevölkerung vor Gericht
Da war es also, das erste Frauenstimmrecht im westlichen Kulturkreis einschließlich seiner Diaspora, wozu die neue Kolonie Pitcairn zählte, gültig bis in unsere Tage. Selbst gewählt wurden Frauen allerdings noch lange nicht.
Ein einziges Mal nur war seither ein Frau Bürgermeisterin von Adamstown, wie die kleine (einzige) Siedlung hoch oben über der Bounty-Bay heißt, benannt nach jenem John Adams. Nur fünf Wochen, vom 8. November bis 15. Dezember 2004, dauerte die Amtszeit von Brenda Christian, wie so viele dort eine Nachfahrin des Obermeuterers Fletcher Christian. Es war der Höhepunkt der heftigsten Krise Pitcairns aus den letzten Jahrzehnten.
Christian hatte ihren Bruder Steve im Amt abgelöst, ihr Nachfolger war Jay Warren. Beide Männer waren in jenem Jahr Angeklagte, neben fünf anderen. Insgesamt ein Drittel der gesamten männlichen Bevölkerung der Insel (Gesamtbevölkerung: etwa 50) stand vor Gericht. In einem großen Prozess, zu dem Richter, Staatsanwälte, Anwälte und Pressebeobachter aus England und Neuseeland für Monate auf die Insel gekommen waren. Sechs weitere, ehemalige Pitcairner, die inzwischen in Australien und Neuseeland wohnten, standen ebenfalls unter Anklage.
Um Vergewaltigung und sexuelle Nötigung ging es bei den Vorwürfen, um Sex mit Kindern (auch mit fünfjährigen), insgesamt 55 Fälle (bei einer Gesamtbevölkerung von 50). Immer deutlicher hatte sich in den Monaten und Jahren zuvor abgezeichnet, dass die Männer auf der abgeschiedenen Insel seit Jahrzehnten sich sexuell genommen hatten, was und welche sie wollten. Die Pitcairner beschäftigte in jener Zeit allein die Frage: Handelte es sich dabei um schwere Verbrechen, oder um polynesische Sitten, wie manche in Anspielung auf die früheren, wohl tatsächlich recht eigenen Gepflogenheiten der pazifischen Inselgesellschaften reklamierten? Die Ansichten darüber spalteten die Inselgesellschaft. Und zwar keineswegs in Männer und Frauen.
Gerade die Pitcairnerinnen waren es nämlich, obwohl zumeist selbst in ihrer Jugend oder zumindest familiär von all dem betroffen, die durch die Bank die Männer verteidigten. Die Reportage aus dem „Independent“ von damals, geschrieben von einer eigens angereisten Reporterin, bringt da deutliche Überraschungen. Eine 48-Jährige erinnerte sich an ihre frühe Mädchenzeit: „Wir dachten alle, Sex ist sowas wie das Essen auf dem Tisch.“ Eine andere beschwerte sich: „Unsere Männer werden hier als harte Kriminelle hingestellt.“ Grundtenor bei vielen: Es war doch im Grunde alles freiwillig. Die Stimmung war nicht gut in jenem Jahr 2004. Manche kooperierten mit den Juristen, wurden von den anderen deshalb geschnitten, manche bezichtigten andere der fehlenden Solidarität, andere argumentierten: stellt euch nicht so an. Eine Rolle gespielt haben dürfte nicht zuletzt die Angst, zu scharfe Urteile würden das Ende der Inselgesellschaft bedeuten.
Die Richter jedenfalls dachten dann nicht in polynesischen Sitten, sondern setzten ihre, die westlichen Maßstäbe an. Sechs Angeklagte wurden zu teils mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, die sie in dem eigens – und auch von ihnen selbst – vor dem Prozess errichteten Gefängnis absitzen mussten, jedenfalls den größeren Teil davon. Jedes Mal für ein paar Stunden durften sie dann raus, wenn ihre Muskeln gefragt waren, etwa für das Klarmachen der Langboote, das Löschen angelieferter Schiffsladungen, Arbeiten am kleinen Kraftwerk. Und der Bedarf war häufig gegeben.
Nur einer der Angeklagten wurde von allen Anklagepunkten freigesprochen: Jay Warren, der Postmeister. Und so konnte er gleich nach dem Urteilsspruch zum neuen Bürgermeister gewählt werden. Und damit das kurze, bislang einmalige Intermezzo der Frauenherrschaft schnell wieder beenden. Wieder ein Mann. Trotz Frauenstimmrecht.