Von Joe Lohmann.
Die traditionelle Bedeutung als Tag des sozialen Aufbruchs wie in Europa hat der 1. Mai hier in Kanada nicht. Trotzdem sollte das vergangene Wochenende in Ottawa ein kleiner Schritt sein, für Demokratie, Meinungsfreiheit, Vielfalt und Ausgleich. Und es hielt die Erinnerungen wach an die unglaubliche und anhaltende staatliche Repression bei der Zerschlagung der Trucker-Proteste.
Die „Veterans for Freedom“, eine Vereinigung ehemaliger Kriegsteilnehmer, hatte als Initiator zur Veranstaltung am Wochenende des 1. Mai in Ottawa aufgerufen, zur Demonstration für Frieden und Versöhnung und den Erhalt bürgerlicher Freiheit für alle. Auslöser war die Erinnerung an die aggressive Brutalität paramilitärischer Kräfte, die am 19. und 20. Februar auf Befehl – ja, Befehl von wem letztendlich? – den bis zu dem Zeitpunkt friedlichen Protest der „Freedom Convoy“ Bewegung gewaltsam aufgelöst hatten. Die Veterans for Freedom waren angetreten, mit einer Gedenkveranstaltung am War Memorial auch die Wunden aus dieser „Convoy“-Zerschlagung zu heilen. Rund fünfhundert Motorradfahrer hatten sie für ihre Idee gewonnen, mit einem Corso durch die Stadt für kulturübergreifende Fairness und gegenseitiges Verständnis zu werben. Und tausende weitere Demonstranten aus Ottawa und vielen anderen Regionen Kanadas waren dem Aufruf gefolgt.
Im Folgenden Ausschnitte der Ereignisse und persönliche Eindrücke im Rückspiegel.
Samstag, 30. April 2022, zwischen Regierungsviertel, Central Business District und Byward Market in Ottawa, den drei für das Demonstrationswochenende für den gesamten Fahrzeugverkehr gesperrten Vierteln: Immerhin ist die City keine komplette „No-Go-Zone“, Radler und Menschen zu Fuß dürfen passieren: Die Wellington Street ist im gesamten Parlamentsbezirk seit der gewaltsamen Räumung der „Convoy-Proteste“ im Februar mit Betonbarrieren zur Fußgängerzone auf unbestimmte Zeit erklärt. Einzige Autos dort: Polizeifahrzeuge, die meisten als solche kaum erkennbar. Überhaupt ähnelt die Polizeipräsenz in ihrem Ausmaß derjenigen der letzten Tagen vor dem denkwürdigen 19. Februar, dem Tag, an dem unmarkierte Sturmtruppen von bis heute nicht verlässlich geklärter Herkunft den passiven Widerstand der ersten Welle der Freedom Demonstrationen mit einer für Kanada unvorstellbaren Härte niedergeschlagen hatten. Die Unterschiede im Vergleich zu jetzt, dem 30. April: keine Sturmtruppen in Sichtweite, freundliche, entspannte Polizisten aus Ottawa, der York-Region, von der OPP, der Ontario Provincial Police, und der RCMP, der aus Film und Fernsehen bekannten „Mounties“. Dazu Temperaturen von plus 15 anstatt minus 20 Grad, herrlicher Sonnenschein und fröhliche Demonstranten aller Alters- und Einkommensschichten – letztere allerdings noch deutlich geringer in der Zahl, jetzt, am Morgen.
Am Abend zuvor, so amüsieren sich einige, seien die Sicherheitskräfte der Stadt schon in absurder Mannstärke aufgetreten. Zeitweise habe die Zahl der Uniformierten die der Demonstranten glatt in den Schatten gestellt, blickt einer von ihnen zurück: „Die öffentlichen Amtsträger müssen gestern schon von gewaltiger Angst befallen gewesen sein. Aber vor wem eigentlich?“ Die Demonstranten hatten das seltsame Spiel mit Humor kommentiert. Ein Youtube-Video zeigt einen Tubaspieler, der die irgendwie hilflos martialische Aufstellung der Beamten mit dem „Imperial March“, dem Marsch der imperialen Sturmtruppen aus den Star Wars Filmen, komödiantisch auf seinem Instrument begleitet.
„Lest We Forget“ – lasst uns nicht vergessen
Es ist kurz nach halb elf Uhr am Samstagmorgen: Direkt vor dem schmiedeeisernnen Haupttor zum Parlamentsgelände baut Brian einen improvisierten Informationsstand auf. Brian ist Trucker aus dem Westen Kanadas. Er war einer der Letzten, die beim Februar-Convoy aus der Innenstadt abgezogen waren – genauer gesagt, damals versucht hatten, widerstandslos abzuziehen. Auf seinem Stand kann man laminierte, selbst arrangierte Poster durchblättern, Collagen aus vielen Grußbotschaften, kurzen Dankesbriefen oder von Kinderhand mit Buntstiften gemalten „We love you“-Herzen und Bildern. Alles Zeugnisse der Zustimmung, der Zuneigung, die ihm Anwohner und demonstrierende Familien im Februar gemeinsam mit Lebensmittel-, Kleidungs- und sogar Geldspenden in seinen Truck gereicht hatten. Die gespendeten Scheine und Münzen hatte er damals sämtlich weitergereicht, an die Feldküchen an den Kreuzungen zwischen den Bürotürmen – oder gleich an Obdachlose, die bei den Truckern, damals, im bitteren Frost, Tag und Nacht willkommen und versorgt worden waren.
Brians Memorabiliensammlung aus dem Februar will die Erinnerung wachhalten, an den Protest, aber vor allem an die anhaltende Zustimmung aus breiten Schichten, an viele schöne Erlebnisse, an die große Menschlichkeit, auch im ständigen Dialog mit der regularen Polizei, will ohne jede Bitterkeit die Euphorie des positiven Aufbruchs der Basis von damals hier und heute neu entfachen. Dabei hätte Brian allen Grund, verbittert zu sein. Und ja, er hat mittlerweile eine Sammelklage gegen Justin Trudeau organisiert, wie er sagt, wegen Anstiftung zur Körperverletzung. Und er sammelt hier Unterschriften weiterer Betroffener und Unterstützer.
Am Abend des 19. Februar 2022 war er zunächst von regulärer Polizei alarmiert worden, seinen Standort jetzt besser ganz rasch zu verlassen. Seinen Truck solle er noch stehen lassen, den könne er später am Abend oder am Morgen abholen, dem sollte nichts passieren. Brian kam zu Fuß genau zwei Blocks weiter, dann war er von Unmarkierten in Kampfanzügen umringt, in Handschellen gelegt und zu Boden geschlagen. Ohne weitere Erklärungen wurde er dann kurz darauf aber wieder freigelassen, erzählt er mir ins Mikrofon. Eine Familie aus Gatineau auf der anderen Seite des Ottawa River hätte ihn dann gefunden, in Sicherheit gebracht und erst einmal bei sich aufgenommen. Zehn Tage dauerte es, bis er seinen konfiszierten Truck gegen satte 1.800 Dollar Gebühr aus dem Gewahrsam der Stadt Ottawa wieder auslösen durfte, alle Scheiben rundherum eingeschlagen – dabei waren die Türen unverschlossen – die Kabine leergeplündert. Bis heute sind viele seiner persönlichen Sachen verschwunden. Die Stadt reagiere auf keine Nachfragen, berichtet Brian. Nun will er gemeinsam mit anderen vor Gericht ziehen, gegen die Stadt, die Bundesregierung und Justin Trudeau.
Kyle aus Toronto, ein weiterer „Veteran“ der Februar-Proteste, kommt dazu, auch er Opfer der Gewalt der Unmarkierten am 19. Februar. Kyle – sein Großvater war selbst Offizier der RCMP – hatte noch versucht, sich als Vermittler des friedlichen Miteinanders einzusetzen, hatte den Sturmtruppen kurz den Rücken zugewandt, als ihn ein Schlag von hinten zu Boden warf. Am Boden liegend, hätten ihn dann Gewehrkolben, Schläge und Fußtritte getroffen, am Kopf und in die Rippen. Trotz sichtbarer Verletzungen, schwerer Prellungen, hätten sie ihn dann mit schwarzen Kabelbindern gefesselt. Reguläre Polizei habe ihn übernommen, eher gerettet, die Kabelbinder zerschnitten und ihm als Andenken an eine gespenstische Erinnerung überlassen, bevor er sich habe absetzen können. Er zeigt mir die Kabelbinder, die er in der Jackentasche bei sich trägt. Kyles Geschichte, an Bryans Stand im O-Ton dokumentiert, ist Stoff für eine eigene Nachlese und Analyse der Ereignisse und Berichte vom Februar und von diesem ersten Mai-Wochenende.
Protest auf kanadisch – eine erste Sommerauflage
Samstagmittag: Langsam füllt sich die Wellington Street vor dem Parlament mit Demonstranten. Wie im Februar sind wieder viele Familien dabei, und wieder dominieren Herzlichkeit, Offenheit, fröhliche Gesichter, lockere Stimmung – Protest auf kanadisch eben. Alle sind willkommen! Viele waren schon im Februar bei Schnee, Eis und Kälte dabei. So mancher ist über hunderte Kilometer angereist, fast alle per Auto, weil man, wie sie beklagen, ungeimpft hier immer noch nicht an Bord eines Flugzeugs käme. Derek kommt gar aus Calgary, rund dreieinhalbtausend Kilometer entfernt. Dereks Familie war nicht begeistert, hatte ihm die Warnungen der drei großen TV-Sender vor der vermuteten Gewalttätigkeit umstürzlerischer „rechter Terroristen“ mit auf den Weg gegeben. Derek wollte das trotzdem alles mit eigenen Augen sehen. Die sich zur Begrüßung oft umarmenden Demonstranten, die gern erst einmal in unaufgeregten Smalltalk abtauchen, zeigen ihm ein komplett anderes Bild, als es selbst im Covid-skeptischen Calgary (sorry, hier fällt nun dann doch das Unwort von den „Skeptikern“) vorabendlich von CTV und Global TV gebetsmühlenartig in den News serviert worden war.
Sie kommen einzeln oder in kleinen Gruppen aus den angrenzenden Straßen. Einer berichtet, dass die Polizei sie an Kreuzungen irgendwie versucht hätte aufzuteilen und zu zerstreuen. Das gleiche passiert dem in der Allgemeinheit als „Rolling Thunder Convoy“ etablierten Motorrad-Corso, den hier schon viele glauben, verpasst zu haben, auch ich befürchte das. Ein Pressekollege berichtet, die Fahrer seien von den Sicherheitskräften einfach nur in Gruppen von jeweils rund einem Dutzend Motorrädern und dann auch nur auf eine Straße geleitet worden. Die einmalige Durchfahrt Richtung Parlamentsbezirk hatte die Stadt gleich ganz abgesagt.
Die Elgin Street führt direkt zum War Memorial – exakt dahin, wo, parallel zu der sich vor dem Parlament einfindenden Menge, die „Veterans for Freedom“, die Vereinigung ehemaliger Kriegsteilnehmer für die Freiheit, eine Gedenkfeier unter freiem Himmel abhalten will. Auch dort eine eher kleine Vertretung der Vereinigung und ein Geistlicher. Immerhin durften einige Veterans und aktive Mitglieder der Streitkräfte in den letzten Tagen die von der Stadt zuvor errichteten „Schutz“-Zäune wieder abbauen, sagen sie. Diese und den gesperrten Zugang zur Gedenkstätte hatten die Soldaten als „entweihende Annexion des Denkmals durch Stadt und Regierung“ angesehen, hatten mit dem Zaunabbau das „Mahnmal für Frieden und Freiheit nun wieder für sich und die gedenkende Bevölkerung überommen“, wie ein junger Kriegsversehrter aus dem Afghanistaneinsatz konstatiert.
Diesem jungen Versehrten wird heute, am 30. April, auch die Ehre der Kranzniederlegung und der ersten Ansprache zur Quasi-Wiedereröffnung der Gedenkstätte zuteil. Er hatte bei einem Einsatz in Afghanistan als Einziger einer vierköpfigen Besatzung überlebt, als deren Fahrzeug in eine Sprengfalle geraten war, hatte dann noch mehrere andere Kameraden unter Beschuss gerettet, dafür die höchste militärische Auszeichnung Kanadas erhalten, aber auch einen bleibenden schweren Rückenschaden zurückbehalten. Weder der eindringliche Hinweis eines anderen Soldaten am War Memorial noch die Orden, die er am 19. Februar trug, hatten jedoch die unmarkierten Antiterrorkämpfer an jenem Tag davon abgehalten, auch ihn ohne jeden Anlass niederzuknüppeln und anschließend mit Schlägen und Gewehrkolben zu traktieren. Die zusätzlichen Verletzungen spürt er noch heute.
Nun, mitten in der Gedenkfeier, schicken Ottawas Sicherheitskräfte einzelne, von Polizei eskortierte Gruppen von Motorradfahrern zum und rund um das War Memorial. Der Motorenlärm erstickt fast die Feier.
Strategie der gezielten Störung geht nur bedingt auf
Neutrale Berichterstattung ohne Interpretation und tiefergehende Kommentierung fällt schwer angesichts solcher „Zufälle“ in der „Sicherung der öffentlichen Ordnung“. Stattdessen drängt sich die Vermutung auf, dass Stadt und Bundesregierung strategisch und taktisch an diesem Wochenende alles unternehmen, um die Demonstration gezielt zu stören, einzuschüchtern und vor allem jegliche Bilder eines öffentlichkeitswirksamen Protestes zu vermeiden.
Zurück auf die Wellington Street am Samstagmittag: Eine geschlossene Gruppe von Gegendemonstranten kommt von Westen her auf den Eingang zum Parlamentsgelände zu. Es sind vielleicht dreißig oder fündunddreißig. Im Auftritt erscheinen sie straff organisiert, im Gegensatz zu den hier ungezwungen für selbstbestimmtes Leben Demonstrierenden. Alle tragen Masken, „als Zeichen, dass sie für die ‚Sicherheit der Gefährdeten vor dem tödlichen Virus’ eintreten“, wie einer der ersten im Zug aufklärt. So weit so berechtigt. Die übrige auf Pappschildern vorgetragene Argumentation ist weniger klar im Ausdruck. Die eher kryptischen Statements sollen vielleicht intelligent, intellektuell wirken, bleiben aber selbst für Betrachter mit akademischer Vorbildung erst nach mehrfachem Lesen ansatzweise interpretierbar. Solche Nachteile schwachen Formulierungsgeschicks gleicht die Gruppe aber verbal aus, beschimpft mit beinahe religiösem Eifer die Demonstranten als Faschisten, Regierungs-Umstürzler und Feinde der Demokratie, die mit ihrer Abneigung gegen Impfstoffe und Masken skrupellos Tausende umbringen würden. Die Demonstranten versuchen, Empathie zu zeigen, auf die Gegengruppe konstruktiv einzugehen, um deren persönliche Argumente und Meinungen im ruhigen Gespräch kennezulernen und zu diskutieren. Der Versuch erweist sich als zwecklos, bleibt ohne Widerhall.
Die Gegendemonstranten hatten als einzige die offizielle Genehmigung erhalten, als geschlossene Gruppe auf dem Parlamentsvorplatz öffentlich aufzutreten, der bereits von zahlreichen unbeschwert fahnenschwenkenden Demonstranten bevölkert ist, und ziehen nun durch den von der speziellen Parlaments-Sicherungstruppe bewachten Haupteingang. Ein Team von Global TV dreht den Auftritt der kleinen Gruppe, danach zieht die sich an den Rand des Geschehens zurück, um eine knappe Stunde später wieder gänzlich abzutreten. Das TV-Team hatte auch schon Demonstranten interviewt, deren Aussagen enden aber letztlich wohl im digitalen Abfallkorb am Schnittplatz im Sender. Global TV-Reporter und Kameramann scheinen zwar leicht frustriert, mittlerweile aber auch abgestumpft. Schließlich haben sie Familie, Haus und Hypothek zu verlieren.
Protestparty im Love and Peace Retro-Stil
Kurz nach Mittag. Eine Motorradstaffel der Ottawa-Polizei ist vorgefahren, stellt sich parademäßig in der strahlenden Sonne auf. Andere Polizisten plaudern zwanglos mit Demonstranten, an einem Gasgrill gibt es kostenlose Hotdogs und Hamburger für alle. Spenden aus der Bevölkerung und von lokalen Geschäften, die selbst die Covid-Lockdowns nur mit Mühe überlebt haben, sorgen für diese freie Bewirtung, auch einiger Streifendienst-Beamter. Und die Bewaffneten der Sicherheitseinheit für das Parlament, das in der Prä-Trudeau Ära noch durch die RCMP als ausreichend geschützt erschienen war, beweisen, dass sie, wie die Demonstranten, „auch nur Menschen“ sind: Sie haben zwischenzeitlich nicht nur Fahnenschwenker, sondern auch Beschallungs-Technik mit freundlichem Lächeln durchgelassen, und so nimmt nun die Protest-Party auf dem Rasen vor dem Parlament Fahrt auf.
Abwechselnd ertönen Musik für alle Alterstufen und kurze Reden zu den Themen, wegen derer die Menge schließlich auf den „Parliament Hill“ gekommen war, aus den Lautsprechern: Indirekter Impfzwang durch Reiseauflagen, eine Regierung, die ihre vom Wahlbürger legitimierten Zuständigkeiten weiterhin überschreitet, ein Premier, der mit seinem Verhalten schlicht das Amt beschädigt, die von Trudeau und mehreren Provinzen nicht einmal im Verborgenen vorangetriebenen Verhandlungen mit den Digital-Riesen über digitale Identitätskarten als Service durch die Konzerne ... – Überhaupt, was kommt nach „Covid“ und was bedeutet der auffällige „Digital-Eifer“ der Regierenden ohne öffentliche Kontrolle für die Kanadier? Droht die digitale Identität wirklich zur Zugangskontrolle zum öffentlichen, sozialen Leben zu werden, als Voraussetzung für freie Bewegung, und wie tief stecken wir da schon drin?
So gelöst tanzend und singend die Stimmung auf dem Rasen auch ist, so sehr das Bild unter wolkenlosem Himmel an Love and Peace und an unbekümmerte Events der Hippie-Kultur im Stil der „Sit-ins“ der 70er Jahre erinnert, so ernst sind die Themen, und so sehr viel komplexer und übermächtiger erscheint die aktuelle Situation im Zug des „New Normal“. Zeit für Einzel- und Gruppengespräche. Michael Bator ist führendes Mitglied der PPC, der People’s Party of Canada, deren Mitgliederzahl auch durch den Zulauf enttäuschter Politiker aus allen etablierten Partein gewachsen ist und die den Einzug ins Parlament bei der letzten Wahl noch knapp verpasst hatte.
Gern hätte ich die Ansichten anderer Parteivertreter kennengelernt und aufgezeichnet, aber Michael, der High-Tech-Fachmann, ist der einzige Politiker hier, ist 600 km weit aus Burlington in Ontarios Weinbauregion angereist. Die Basis-Demokratie, die Verpflichtung der Politik als Vertretung, nicht als „Regierung“ des Bürgers, liegen ihm am Herzen. Seine im O-Ton aufgenommenen, intelligent differenzierenden Ansichten und seine Ethik, angelehnt mehr an inidigene Auffassungen einer offenen Welt statt an Religionen oder Ideologien, bieten ebenfalls reichlich Stoff für eine kritisch-analytische Nachbetrachtung der Themen zum ersten Mai in Ottawa.
Das Zuhören bei anderen Gesprächen mit Demonstranten aller Couleur, wie im Februar wieder auch mit Vertretern indigener Stämme, mit asiatischen, europäischen oder afrikanischen Einwanderern auf der gut besuchten Demo-Party in Ottawa an diesem Samstag, lässt Hoffnung und Alarmstimmung die Waage in der Auswertung. Etwas ist anders als im Februar: Die Argumente beginnen pauschaler, undifferenzierter zu werden, vor allem die Einschätzung, Bewertung oder Auffassung zu Ursachen und Hintergründen all dessen, was wir in den letzten zweieinhalb Jahren erleben mussten. Der WEF, Klaus Schwab, die Digital-Giganten, Gates, Besos, Zuckerberg, dann auch Big Pharme, wie all deren vermutete generelle Marschrichtung, hin zu einer autokratisch durch einen globalen Konzern-Politik-Komplex regierten Welt, sie stehen bei den meisten im Zentrum ihrer Befürchtungen.
Nur simplifizieren viele der Demonstranten im Interview die wohl wesentlich komplexeren, vielleicht nicht einmal so klar durchgängig vernetzten Hintergründe im globalen Geschehen weit weniger als noch vor einigen Monaten. Viele drücken auch aus, dass der breiten Bevölkerung das alles über den Kopf wachse. Sie fühlen Ohnmacht, möchten diese herausschreien. Die Suche nach endlich einfachen Antworten schimmert durch, dazu eine neue Entschlossenheit, die etablierten Parteipolitiker allesamt abzuwählen, Parteien durch Unabhängige zu ersetzen, die direkt den Wählern berichtspflichtig sind. Dies vor allem bei Demonstranten eher unterer Einkommensschichten, angefacht auch durch akute Unsicherheit der eigenen wirtschaftlichen Verhältnisse – und schlicht durch psychische Erschöpfung nach über zwei Jahren „Covid“.
Auch das spaltet die Gesellschaft, geistig und in ihrer Fähigkeit, auf die Veränderungen zu reagieren. Ein deutlicher Beleg: der gegenläufige Trend im akademischen Lager der Demonstranten. Unter Natur- und Sozialwissenschaftlern, unter Medizinern oder Historikern wird vielschichtiger und tiefschürfender recherchiert und nachgedacht. Auch hier war der „Freedom Convoy“ Weckruf, hat neue Aufmerksamkeit ausgelöst. Aber in der Art der Diskussion der Vorgeschichte, der denkbaren Auslöser und möglichen Antriebe der „Covid-Politik“, unterscheidet sich diese Fraktion nun viel deutlicher von der breiten Mehrheit als noch im Februar. Auch in der Frage der weiteren Entwicklung nach diesem wohl ersten Akt der „Pandemie“, wer davon wie profitiert und die Gemengelage der Interessen bestimmt. Diese Art der Betrachtung der Dinge, in der für ihn die derzeitige Lage wie die Zukunft mit jeder weiteren Erkenntnis eher diffiziler denn klarer wird, unterstreicht auch Kristoph, IT Fachmann aus Polen, der nun im Großraum Toronto lebt, später am Abend bei einem Snack in einem der vielen Ketten-Cafes.
A New Hope ganz zum Schluss
Zuvor war ich am Rand des einzigen organisierten Protestmarsches zum Ausklang des Tages mit zwei Studentenpaaren der Universität von Ottawa ins Gespräch gekommen, die – weil weiter ungeimpft – aus allen Vorlesungen ausgesperrt worden waren. „Jeder, der an seinem Bachelor- oder Master-Titel arbeitet, sollte eigentlich in der Lage sein, auch medizinisch-biologische Fachliteratur soweit zu durchdringen, dass ihm mindstens die Unwägbarkeiten und potenziellen Gefahren der ,mRNA’ Impsftoffe auffallen“, meinte eine der beiden Studentinnen mit französischem Pass, die in der Nähe von Grenoble aufgewachsen und dort zur Schule gegangen war: „Und warum bitteschön durfen diese Stoffe Milliarden von Menschen injiziert werden, bevor eine, normal doch so um die sieben Jahre dauernde Testphase abgeschlossen wurde? Und warum wollen unsere Politiker überhaupt so unbedingt diese RNA in uns alle hineinpumpen, zwei- und dreimal, ja vielleicht dann künftig jährlich? Ich bin gar nicht generell gegen Impfen“, sagt sie, „von Leuten, die das wirklich brauchen. Aber warum jetzt plötzlich alle? Und warum bekommen wir nicht die Wahl zwischen der RNA und all den, wie wir ja auch nur vermuten können, harmloseren Impfstoffen?“ Ihr Partner ergänzt: „In meinem Studium der Politik und Wirtschaft hab ich gelernt, dass in der Politik nichts ohne Grund und weitergehende Absichten geschieht. Dass es das ist, was wir historisch analysieren sollen und auf die Gegenwart anwenden können“. Und er schiebt nach: „Aber das lernst du heute nur noch von wenigen alten Professoren, die kurz vor der Emeritierung stehen. Die meisten jüngeren sind da komplett kritiklos und schwimmen einfach passiv mit.“
Letzteres, befinden die vier, träfe auch auf die große Masse ihrer Kommilitonen zu: Wenn man mit denen versuche, über Pollitik zu diskutieren, würden die meisten – „hier in Kanada“, wie die junge Französin konkretisiert – einfach nur „dicht machen“. Die Studenten von heute seien die Kinder der „Millennials“, und schon die hätten sich den Einführungsversuchen in politisch kritische Denklandschaften durch ihre Eltern schon von klein auf überwiegend durch die süße Flucht in die Welt der virtuellen Spiele und Phantasyfilme erfolgreich entziehen können. Da fehle nun komplett die Verdrahtung für jegliche Kritik an System und Lehrenden. Die würden alles einfach akzeptieren, so wie Professoren und Medien es ihnen zur stupiden Reproduktion vorbeten. Hinzu komme, dass jedes Hinterfragen von Lehrmeinungen oft postwendend mit strafenden Blicken der Lehrenden geahndet würde, und dass die im Mittelstand angekommenen Mainstream-Eltern der Studenten schon auf Anflüge von Absichten zur politischen Diskussion teils regelrecht aggressiv reagierten. Im Ergebnis wollten die Eltern ihrer Kommilitonen einfach nicht aus der Beschaulichkeit ihrer Komfortzone gerissen werden, die meisten Mitstudenten selbst einfach nur auf die nächste Party oder zum Konzert. Und wenn sie sich dafür dreimal impfen lassen müssten, „so what“, da fragten sie dann nicht weiter nach.
Nun hätte ich aber, unterbreche ich, bei den Protesten im Februar überraschend viele Schüler und Studenten kennengelernt, die mit sehr bewusst formulierten Plakaten ziemlich engagiert protestiert hätten. Das hätte sich heute wiederholt, und sie wären ja da schließlich auch gerade im Protestzug mitmarschiert. „Ja“, sagen sie, „der Convoy hat viele aufgerüttelt, quer durch Kanada, und quer durch die Studentenschaft und bis in die High Schools hinein. Das werden stetig mehr. Und die stellen Fragen, viele Fragen, und wollen nicht länger einfach alles hinnehmen und sich nicht mit RNA vollpumpen lassen, mit möglichen Folgen, die ihnen keiner vorhersagen kann, über die keiner mit ihnen spricht. Denen ist auch immer mehr bewusst, dass die ganze Geschichte nicht mit dem Impfen enden könnte.“
Und das gibt mir wieder Hoffnung, „a New Hope“, an diesem letztlich großartigen Samstag zum 1. Mai, der auf seine Art Zeichen gestzt hat – der übrigens der einzige Protesttag an diesem vergangenen Wochenende bleiben sollte. Zum 1. Mai sind die meisten nach einem Gottesdienst im frankophonen Ottawa-Vorort Vanier einfach geschlossen nach Montreal aufgebrochen, zur Großdemo gegen, nein, nicht nur gegen die in Quebec immer noch nicht abklingenden Covid-Maßnahmen, sondern vor allem gegen den Kontrollverlust der Wahlbürger über die Politik und irgendwann über ihr eigenes Leben.
Joe Lohmann lebt seit den späten 1990er Jahren überwiegend in Nordamerika und arbeitet sowohl in der wissenschaftlichen Projekt-Koordination und als freier Autor. Derzeit befindet er sich in Ottawa.