Peter Grimm / 29.07.2019 / 07:56 / Foto: Pixabay / 76 / Seite ausdrucken

Es ist nicht alles faul im Staate D.

Vor 30 Jahren – im Frühjahr 1989 – gab es in der DDR eine Veranstaltung, die nannte sich Kommunalwahlen, obwohl sie mit den gleichnamigen demokratischen Verfahren andernorts nichts zu tun hatte. Zu wählen gab es bekanntlich im SED-Staat nichts. Wer welche Funktion einzunehmen hatte, war ebenso vorab festgelegt worden, wie das Wahlergebnis. Niemand glaubte die Farce, doch als regelmäßiges Unterwerfungsritual der Untertanen gegenüber der Obrigkeit war der SED-Führung diese Aufführung wichtig. Jeder Bewohner der DDR wusste, dass er – wenn er nicht unangenehm auffallen wollte – im Wahllokal zu erscheinen und seinen Wahlschein, so wie er war, in die Urne zu werfen hatte. Wer nicht erschien oder vor Ort die eine aufgestellte Wahlkabine aufsuchte, demonstrierte mindestens, dass er sich nicht so leicht unterwarf, wenn nicht gar Gegnerschaft zum Regime.

Vor 30 Jahren nun hatten Oppositionelle die Überwachung der Auszählungen in den Wahllokalen organisiert und die Ergebnisse selbst ausgewertet, um die Wahlfälschung nachzuweisen und um damit deutlich zu machen, wie wenig Legitimität die SED-Führung in der DDR-Bevölkerung besaß.

Ältere Bewohner im Osten denken auch an diese Geschichten, wenn von Wahlen und der Rettung der Demokratie die Rede ist. Und viele von ihnen reagieren auch allergisch und trotzig, wenn sie das Gefühl haben, dass ihnen vor einer demokratischen Wahl Politiker und Medienvertreter, die sie als Teil der Obrigkeit wahrnehmen, parteiübergreifend vor allem von der Wahl einer Partei abraten, statt im Wettstreit für ihre eigenen Lösungsansätze der drängenden Probleme zu werben.

Diese Strategie ist bekanntlich schon seit sechs Jahren erfolglos. Trotz aller Irrlichter in den eigenen Reihen konnte die AfD Wahlerfolg auf Wahlerfolg verbuchen, und den etablierten Parteien aller Couleur fiel dennoch nichts anderes ein, als konsequent auf ihrem von Erfolglosigkeit gekrönten Weg zu bleiben. Dass es in Europa Parteien wie die dänischen Sozialdemokraten mit dem Anpacken genau der unangenehmen Problemfelder geschafft haben, die heimischen Rechten zurückzudrängen, ficht sie offenbar nicht an.

Halbwertszeit von Abgrenzungsbeschlüssen

So sehen sich nun alle Parteien vor einem kleinen Showdown bei der sächsischen Landtagswahl am 1. September. Die AfD könnte stärkste Partei werden und es der seit 1990 im Freistaat regierenden CDU unmöglich machen, eine Regierungsmehrheit zu finden, die der eigenen Basis noch vermittelbar ist. Die Angst geht mancherorts bekanntlich um, dass einige Christdemokraten schwach werden und den über die AfD verhängten Bann brechen könnten. Selbst wenn es nicht gleich um eine Koalition ginge, sondern beispielsweise „nur“ um die Duldung einer Minderheitsregierung – es wäre eine Zäsur wie einst 1994 die Duldung der rot-grünen Minderheitsregierung in Sachsen-Anhalt durch die PDS. Bis zu diesem Zeitpunkt galt es als undenkbar, dass ausgerechnet die SED-Nachfolger wieder einen Fuß in die Tür zur Macht bekommen. Mit dieser Minderheitsregierung begann die allgemeine Verklärung der Erben der letzten Diktatur zu einem Bestandteil der bundesdeutschen Demokratie.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Die SED-Erben und die AfD sollen hier nicht einfach gleichgesetzt werden, aber das Muster, wie bislang politisch Unberührbare plötzlich die Akzeptanz der Mächtigen finden können, ist gerade vielen Ostdeutschen noch deutlich in Erinnerung, so dass sie die Halbwertzeit von Abgrenzungsbeschlüssen nicht besonders hoch veranschlagen.

In dieser Gemengelage wirkte der Beschluss des sächsischen Landeswahllausschusses, der AfD wegen angeblicher Formfehler nur die ersten 18 Plätze auf der Wahlliste zuzugestehen – bei nach damaligen Umfrageergebnissen zu erwartenden 30 Mandaten – wie ein Stimmungssprengsatz. Sollte das politische Establishment wirklich auf diese Weise das Problem mit dem mutmaßlich schwierigsten Wahlergebnis der deutschen Nachkriegsgeschichte lösen wollen? Nichtzulassung von Oppositionskandidaten zur Wahl, das gibt es in Putins Russland, aber hier im Land des Grundgesetzes?

Die Begründungen des Landeswahlausschusses für diese Kürzung waren nicht gerade überzeugend, zumal es nicht einmal einen unterlegenen Möchtegern-Kandidaten gab, der die Liste angezweifelt hätte. Allenfalls die Änderung des Wahlmodus, ohne rechtzeitige Ankündigung, wirkte noch als nachvollziehbarer Mangel, doch der griff bekanntlich erst ab Listenplatz 31.

„Demokratische Tragödie“

Spannend waren die Reaktionen nach dem Beschluss des Landeswahlausschusses. Natürlich gab es auch Spott und Häme gegenüber der AfD, die angeblich zu blöd gewesen sei, eine ordentliche Wahlliste einzureichen. Doch das war eher ein Randphänomen. Stattdessen meldeten sich plötzlich viele Stimmen, die – jeder AfD-Sympathie völlig unverdächtig – durch dieses Verdikt die Glaubwürdigkeit des Wahlergebnisses in Gefahr geraten sahen und auch schwere rechtliche Bedenken anmeldeten.

Sie gingen allerdings davon aus, dass das Landesverfassungsgericht nicht vor der Wahl über die Zulässigkeit der Listenkürzung entscheiden würde und fürchteten die Folgen für die Gültigkeit dieser Wahl. Der Wahlrechtsexperte Wilko Zicht sagte beispielsweise in einem taz-Interview, dass „Verfassung und Wahlgesetz bewusst in Kauf nehmen, eine fehlerhafte Wahl abzuhalten und dies erst im Nachhinein zu korrigieren. Man will damit der Gefahr begegnen, dass sich eine Wahl wegen Streitigkeiten verschiebt. Die Fristen sind eng, in wenigen Tagen soll die Briefwahl beginnen.“ Im Nachhinein hätte die AfD dann aber aus seiner Sicht die Chance, „eine erfolgreiche Wahlprüfungsbeschwerde einzureichen. In letzter Konsequenz könnte das bedeuten, dass der Landtag neu gewählt werden muss.“

Und die Professorin Sophie Schönberger, Direktorin am Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung der Universität Düsseldorf sprach sogar von einer "demokratischen Tragödie". Dem Spiegel sagte sie, warum:

„Weil die Landtagswahl, so wie es aussieht, nun in jedem Fall demokratischen Schaden nehmen wird. Da sich die Nichtzulassung der AfD-Liste jetzt nicht mehr korrigieren lässt, droht die Legitimität des Landtags zu erodieren, wenn später festgestellt wird, dass der Landeswahlausschuss hier falsch entschieden hat.“ Das schwäche die demokratischen Institutionen.

Falsche Sieger

Diese Bedenken haben offenbar auch die Richter am sächsischen Landesverfassungsgericht umgetrieben, und sie haben am letzten Donnerstag, entgegen der Erwartung der Experten, eben diese Nichtzulassung der AfD-Liste zumindest teilweise korrigiert. Mit diesem Urteil haben sie den Sachsen gezeigt, dass der Rechtsstaat doch noch funktionieren kann und in der Lage ist, eine „demokratische Tragödie“ abzuwenden. Ein hoffnungsvolles Signal.

An diesem kann man sich erfreuen, allerdings gab es in der Zeit, als alle auf die Entscheidung des Verfassungsgerichts gewartet haben, auch einen Anlass, noch einmal auf die Vorsitzende des Landeswahlausschusses zu schauen. Landeswahlleiterin Carolin Schreck ist auch Präsidentin des Landesamtes für Statistik. Ihre Behörde hatte nach den Kommunalwahlen im Freistaat am 26. Mai zwar Ergebnisse veröffentlicht, doch eine Gesamtrechnung der Gemeinde- und Stadtratswahlen fehlte zunächst. Für die Kreistage hatte das Amt die Ergebnisse im Angebot, doch wer die gleiche Übersicht für die Städte und Dörfer haben wollte, musste sie sich selbst aus den vielen Einzelergebnissen zusammenrechnen. Auf Anfragen reagierte das Amt hinhaltend. Erst in der vorletzten Woche wurde dieses Ergebnis veröffentlicht.

Was zu anderen Zeiten oder andernorts vielleicht als ärgerliche Behörden-Nachlässigkeit durchgehen könnte, hat in Sachsen durchaus ein Geschmäckle. Denn in den Tagen nach dem 26. Mai hieß es allenthalben in der Presse, dass die CDU im Freistaat kommunal stärkste Kraft geblieben wäre. Andere Zahlen lagen nicht vor. Das nun in der vorvergangenen Woche endlich veröffentlichte Gesamtergebnis wies aber einen ganz anderen Wahlsieger aus, der sich an diesem Erfolg nun erst Wochen später erfreuen darf, allerdings mit geringerer öffentlicher Wahrnehmung:

„Die gesamten Kommunalwahlen inklusive der Gemeinde- und Stadtratswahlen haben aber mit 25,8 Prozent klar und eindeutig die Freie Wähler e.V. und die Unabhängigen Wählervereinigungen gewonnen – in jedem der zehn Landkreise des Freistaates Sachsen. Auch in der Summe aller Stimmen, die bei den Kommunalwahlen in Sachsen angegeben wurde, inklusive der drei kreisfreien Städte Chemnitz, Dresden und Leipzig.“

Sensible Sachsen

Das schreibt die Landesgeschäftsführerin der Freien Wähler, Antje Hermenau, – also quasi eine Wahlsiegerin – jetzt im Cicero. Die CDU hat demnach nur 23,8 Prozent der Stimmen erhalten, dicht gefolgt von der AfD mit 23,66 Prozent. Nun sind Kommunalwahlen keine Landtagswahlen und Freie Wähler sind regional immer stärker als überregional. Doch warum war es nötig, zu suggerieren, die CDU hätte sich als stärkste Kraft behauptet? Vielleicht kann sich die Präsidentin des sächsischen Landesamts für Statistik auch nicht vorstellen, dass manche Sachsen mit dem Blick auf ihre Geschichte äußerst sensibel sind, was den Umgang mit Wahlergebnissen angeht. Als man im Osten der SED-Obrigkeit mit der Beobachtung der Auszählung und eigenen Ergebnisauswertungen die Wahlfälschung nachwies, begann sie gerade ihr Rechtsreferendariat im Landgericht Mosbach (Baden).

Jetzt darf man sich aber erst einmal über das Urteil des sächsischen Landesverfassungsgerichts freuen. Nicht wegen der AfD, sondern wegen des Rechtsstaats und der Demokratie.

Foto: Pixabay

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Leserpost

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Gereon Stupp / 29.07.2019

»Man« darf sich durchaus auch wegen der oder für die AfD freuen, muß das aber nicht, weder Sie noch sonstwer. Da haben Sie so vernünftig und ausgewogen argumentiert, und dann in der Nachspielzeit noch ein nickeliges kleines Foul in der Hoffnung, daß der Schiedsrichter, vulgo Leser, nicht mehr so genau hinschaut. Das haben Sie doch gar nicht nötig, warum also? Doch ein bißchen Volkserzieher?

Christian Feider / 29.07.2019

ich warte auf das Urteil am 16.August,denn auch die restliche “gekürzte” Wahlliste muss eigentlich genehmigt werden,denn auch andere Parteien verfahren genau nach dem gleichen Muster….manche sogar noch repressiver,wie zb die “Grünen”,deren Kandidaten je ein Männchen und ein Frauchen beinhalten MÜSSEN, Fähigkeit und Beliebtheit spielen da dann keine Rolle…. wer etwa Chancengleichheit bei einem Aufstellungsparteitag zu kritisieren haben will,sollte erstmal bei denen nachschauen,die die Steine am Liebsten schmeissen. Auch der Wechsel von Einzelkandidat zu Blockwahl ist regelkonform,wenn kein Delegierter dagegen Widerspruch einlegt und alle damit einverstanden sind,das liegt im Ermessen der Parteien. Es hilft alles nix,die volksfeindliche Politik,die parteienübergreifend seit 2000 betrieben wird,hat ein Korrektiv bekommen,das den Wettbewerb belebt. Sorry,Altparteien,aber Ihr seid keine “Erbfürsten”

Dieter Franke / 29.07.2019

Es gab ja bereits eine weitere “Zäsur” in der Zusammenarbeit von etablierten Parteien mit ehemals Verfemten.  Auch die Grünen sollten zuerst mit Dachlattenpolitik der SPD klein gehalten werden, später wurden sie zum Traumpartner von Schröder.

Arthur Dent / 29.07.2019

Für mich ist das Ergebnis jetzt 30 AfD Listenplätze zuzulassen kein Sieg, sondern nur eine kleinere Niederlage der Demokratie. Fast möchte man meinen, dass es sich um ein Good Cop/ Bad Cop Spiel von Wahlausschuss und Verfassungsgericht gehandelt hat. Der Bad Cop will nur 12 Listenplätze zulassen, der Good Cop 30, dabei stünden der AfD 61 Listenplätze zu. Die AfD wird aber wahrscheinlich über 30 Plätze erringen. Klagt sie nach der Wahl wegen 1-3 Listenplätzen und muss die Wahl wiederholt werden, dann wird man die AfD als Verursacher der zusätzlichen Kosten für die Wahlwiederholung hinstellen, nicht den Wahlausschuss.

Arnd Siewert / 29.07.2019

Freude natürlich an der AfD, denn der Rest verspielt und zerstört gerade unsere Heimat samt Zukunft - zugunsten muslimischer Konsumenten und ideologischer Hysterien. Wer sollte den Wahn sonst stoppen?

Thorsten Rosché / 29.07.2019

Wenn das schon als Nachweis für einen funktionierenden Rechtsstaat herhalten muss, sieht es böse aus !  In diesem Staat funktioniert so gut wie Nichts mehr .  Nur nebenbei :  Wir haben zur Zeit eine Erbschaftssache laufen, die Erledigung ist seit Jahren überfällig.  Bei einer persönlichen Vorsprache beim AG, fand ich den genervten Juristen in seinem Büro “rein zufällig” hinter einem Aktenberg in seinem Büro.  Mitte bis Ende 2020 könnte ich mit einer Bearbeitung rechnen, beschied er mir, falls nichts dazwischen kommt.  Möglich ist allerdings das der Vorgang dann in meine Erbmasse fällt, bin nicht mehr der Jüngste ;-)

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