Gastautor / 24.12.2008 / 10:52 / 0 / Seite ausdrucken

Emel Zeynelabidin: Lernt Schwimmen!

In NRW entbrannte kürzlich ein Streit zwischen den muslimischen Eltern einer pubertierenden Tochter und der Schulleitung, der vor Gericht gelöst werden musste: die Tochter, gerade mal 12 Jahre alt, durfte aus religiösen Gründen nicht an einem koedukativen Schwimmunterricht teilnehmen, es sei denn nur mit Vollverhüllung.

Den Eltern ging es vor allem um die Erkämpfung des Rechts, im Rahmen der Religionsfreiheit dieses Landes ihre Religion auszuüben. Tatsächlich ging es diesen Eltern bei dieser Klage vielmehr um das Recht, eine Interpretation von religiöser Vorstellung zu leben und sich mit diesem Anspruch Akzeptanz zu verschaffen, ohne Rücksichtnahme auf gesellschaftliche Normen und das psychische Wohl der Tochter.

Es ist immer wieder die Rede von Schutz und Scham, von Ehre und Anstand, von Gottes Willen und koranischen Geboten, wenn es um die Rechtfertigung für diese Vollverhüllung, für die Erhaltung der Würde von muslimischen Frauen geht.

Viele Frauen können heute auch ohne diese Verhüllung und angeblich religiös bestimmten Bekleidungsregeln in Schutz und Würde leben. Denn es geht um ein verordnetes Schamgefühl im Namen von Religion, das in die natürliche Entwicklung eines heranwachsenden Menschen eingreift und in der Praxis ein Lernverbot im Namen Gottes nach sich zieht.

Hinter diese Kulissen voller Widersprüche und Unklarheiten mag man sich als Außenstehender und Andersgläubiger nicht gerne begeben, selbst Richter an deutschen Gerichten ziehen es vor, solche Exkursionen zu unterlassen.

Es gibt historische Quellen, die auf das Lernen von Schwimmen, Reiten und Bogenschießen als Empfehlung hinweisen. Für Muslime gelten Empfehlungen aus der Zeit des Propheten als Sunna. Muslime nehmen in der Regel die Sunna des Propheten, die aus seinem Leben und Handeln besteht, sehr ernst. Das Reiten und Bogenschießen kann ich nachvollziehen, denn es waren Fertigkeiten, die in den damaligen Zeiten von immer wieder auftretenden Schlachten nötig waren.
Aber Schwimmen? Damals gab es in den Orten Mekka und Medina, an denen der Prophet gelebt hatte, keinerlei Gewässer. Warum also die Empfehlung zum Schwimmen, wenn doch die Umsetzungsmöglichkeiten für die Gläubigen mitten in der Wüste sehr unwahrscheinlich waren?

Seit ich meine Verhüllung vor 3 Jahren abgelegt habe, hole ich eine Menge an Lernprogramm des Lebens nach. All das, was ich in über 30 Jahren der Verhüllung mit Kopftuch nicht erlernen konnte. Denn, das muss gesagt sein, in jener Welt der Verhüllung war ich eingeschränkt in meiner Willens-Beweglichkeit, weil ich mich nicht an die heutigen Lebensumstände anpassen durfte, um die ganze Palette an vielfältigen Lernangeboten nutzen zu können. Diese einschränkenden Regelungen mögen für den einen zeitweise ganz gut sein, aber sich für den anderen wiederum erdrückend anfühlen, wenn er, ohne Rücksicht auf die natürliche Veränderung von Bedürfnissen, durch Dritte im Namen Gottes dazu auf Lebenszeit verdonnert wird.

Ich erlebe gerade am eigenen Leibe, warum die Empfehlung zum Schwimmen wichtig gewesen sein muss, seitdem ich mit dem Schwimmunterricht für Erwachsene begonnen habe. Im Gegensatz zu meinen eigenen 6 Kindern, die schon im Vorschulalter das Schwimmen gelernt haben, konnte ich als Kind leider nicht in den Genuss des Schwimmenlernens kommen, weil meine überbehütenden Eltern in einem fremden Land, in das sie gerade emigriert waren, Angst um ihre Tochter hatten. Und als Erwachsene war es bisher unwahrscheinlich schwierig, eine Gelegenheit zu finden, ausschließlich in Anwesenheit von Frauen schwimmen zu gehen.

Meine heutigen Schwimmversuche sehen so aus:
Im Wasser erinnere ich mich an meine Ängste des Ertrinkens, der Gedanke in tiefem Wasser zu sein erhöht diese Angst um einiges mehr. Es geht also auch um den Erwerb von Überlebenstechnik. Ich versuche den Anweisungen unseres Schwimmlehrers zu folgen. Ich soll mein Tempo verlangsamen, Arme und Beine in harmonischer Koordination strecken und beugen, auf den gleichmäßigen Atem achten, damit ich nicht aus der Puste komme. Gar nicht so einfach, wenn man erst mit 47 Jahren beginnt, schwimmen zu lernen. Es tröstet mich ungemein, dass mit mir zusammen noch einige andere Erwachsene im Wasser ihr Bestes geben, z.T. mit Schwimmhilfen wie Kinder beim Beginn von Schwimmunterricht. Ein doch komischer Anblick bei den großen Körpern.

Ich trage einen Badeanzug mit zusätzlichen knielangen Leggings, weil ich mir sonst nackt vorkomme. Mein Schamgefühl hat mich zusätzliche 40,-Euro gekostet, aber dafür fühle ich mich so wohl, dass es mir nichts ausmacht, mit Männern zusammen zu schwimmen. Noch vor 3 Jahren wäre das undenkbar gewesen, weil es als Sünde gilt, sich neben fremden Männern ohne Vollverhüllung zu zeigen. Aber vor 3 Jahren wäre ich auch noch nicht selbstbewusst genug gewesen, diese Verantwortung für mich zu tragen.

Man könnte sagen, dass ich erst mit dem Begehen einer angeblichen Sünde beginnen konnte, selbstbewusster und verantwortungsbewusster zu werden.
Heute verstehe ich nach all meinen neuen Erfahrungen nicht mehr, warum diese Geschlechtertrennung in diesem Maße im Vordergrund stehen muss. Männer sind Menschen, die gelernt haben, mit Frauen als ganze Persönlichkeiten umzugehen und sie nicht immer nur auf ihren Körper zu reduzieren. Und Frauen haben gelernt sich zu wehren, wenn es sein muss.

Zurück zu den Richtern in Düsseldorf:
1. Ich wundere mich, warum die nicht-muslimischen Richter nicht die Frage formuliert haben, ob denn die vielen nicht-muslimischen Schülerinnen schamlos und weniger schutzbedürftig seien, als ein muslimisches Mädchen, dass durch diese Art von Verhüllung angeblich schamhafter und geschützter sei.
2. Außerdem wird den vielen männlichen Schülern Lüsternheit und Belästigung unterstellt.
3. Am Bedenklichsten bei dieser misslungenen Konfrontation vor einem deutschen Gericht ist aber die Infragestellung der Aufsichtspflicht, die hinter dieser Klage steckt.
4. Welche Vorfälle von Übergriffen im Schwimmunterricht liegen eigentlich vor?
5. Muslime trauen einem staatlichen Schutzraum nicht mehr.

Für den säkularen Staat steht das Wohl eines Heranwachsenden im Mittelpunkt. Deshalb die Aufsichtspflicht des pädagogischen Personals, deshalb die staatliche Anerkennung von Lehrkräften, deshalb Bildungsrichtlinien und Fortbildungen, und nicht zu vergessen die Bildungspolitik in einem demokratischen Land wie Deutschland, die sich den Anforderungen der Zeit im Wandel ständig stellt. Dieser staatliche Schutzraum ermöglicht erste Erfahrungen mit der „Überlebenstechnik“ im Wasser zu machen, das Selbstvertrauen zu steigern und in gemischten Schwimmgruppen auch das andere Geschlecht nicht als Bedrohung zu sehen, sondern respektieren zu lernen. Das sind Erfahrungen, die jeder so früh wie möglich machen sollte.

Wie es bei dieser öffentlichen Auseinandersetzung wohl dem betroffenen Mädchen gegangen sein mag? Wird sie das locker wegstecken oder später ihre Eltern, die Lehrer oder gar insgeheim Gott für ihr Los anklagen? Für Heranwachsende bedeutet das Muslimsein in einer nicht-muslimischen, säkularen Gesellschaft sehr oft immer noch Isolation, Einschränkung und Kontrolle.

Alles, was einem widerfährt, begegnet, herausfordert, ist Teil des Lernprozesses in der Lebenszeit eines Menschen. Die Geburt als bedürftiger Säugling, der sich ins Leben hineinlernen muss, ist ein anschauliches Symbol für den lebenslangen Lernprozess. Antriebsmotor dafür ist die Neugierde, und spätestens im fortschreitenden Alter ist es der Drang zu verstehen und zu begreifen, was es einem überhaupt bedeutet zu leben. Irgendwann wird auch diese 12 jährige verstehen wollen, warum sie diesen Einschränkungen unterworfen war, die sie von der Klassengemeinschaft isoliert und das Leben unnötig erschwert haben.

Steht deshalb in diesem Maße das Wohl eines Heranwachsenden auch für muslimische Eltern und Islamische Organisationen im Mittelpunkt, wenn aufgrund von unterschiedlichen Meinungen Konflikte entstehen, die dann auch noch in aller Öffentlichkeit ausgetragen werden?

In einem Interview in der Juni-Ausgabe der monatlich erscheinenden Islamischen Zeitung äußert sich der Jurist Mustafa Yeneroglu, der die Rechtsabteilung der Kölner IGMG leitet, über das Düsseldorfer Urteil. Der Leser erfährt von dem Zwang durch die Schulleitung der 12 jährigen Schülerin gegenüber, und der Ablehnung des Befreiungsantrags der Eltern, die durch den Druck der Schulleitung in einen Gewissenskonflikt geraten sind. Weiter beklagt Yeneroglu den Trend in NRW, die Religionsfreiheit der Muslime immer mehr einzuschränken, mit dem Ziel, unter dem Deckmantel von Integration vielmehr die Assimilation zu erreichen. Er befürchtet, dass das Düsseldorfer Urteil den Druck auf Muslime durch nicht-muslimische Schulleitungen erhöhen werde. Yeneroglu zieht einerseits Artikel 6, Absatz 2 des Grundgesetzes heran, um die elterlichen Erziehungsrechte zu untermauern, aber andererseits stellt er fest, dass niemand das Recht dazu habe, jemanden seine Vorstellungen aufzuzwingen wie es der Staat, vertreten durch die Lehrer, angeblich der Familie gegenüber aber tue.

Islamische Organisationen erschweren mit ihrem öffentlichen Engagement den heranwachsenden jungen Muslimen das Leben in einer nicht-islamischen Gesellschaft, wenn sie z.B. eine nicht Teilnahme am Schwimmunterricht in gemischten Gruppen mit Stellungnahmen verteidigen und in der persönlichen pflichtbewussten Haltung der Lehrer einen Angriff auf den Islam sehen.

Es wird nicht argumentiert und abgewogen, es wird um Privilegien gekämpft.

Was um alles in der Welt hat das alles mit Religion zu tun, wenn ein Mädchen mit 12 Jahren in der staatlichen Grundschule unter Aufsicht von Lehrern zusammen mit ihren Mitschülern und Mitschülerinnen schwimmen lernen soll? Was ist das für ein Religionsverständis, das diese Situation zu einem Streitpunkt macht, die in einer Unzufriedenheit ohne vernünftige Lösungen für die betroffenen Heranwachsenden endet?

Oder steckt hinter diesem ganzen Aufwand etwa die Angst vor einer Entwicklung zu einem Selbstbewusstsein von muslimischen Mädchen, was nicht erwünscht ist? Warum ruft niemand diesen Eltern zu, dass eingeredete Angst und anerzogene Scham zwar unterwürfig, aber nicht selbstbewusst machen. Ein ausgeprägt erlerntes Schamgefühl schlägt sich dauerhaft nieder in der Wahrnehmung, im Erleben und Verhalten. Alles beginnt sich um dieses Schamgefühl zu drehen und um die Kontrolle dessen.

Die Abmeldung vom Schwimmunterricht ist keine Lösung und keine erstrebenswerte Alternative. Denn das Schwimmen lernen gehört zu den Empfehlungen der islamischen Tradition und die vorhandenen Möglichkeiten im Rahmen der Schulpflicht sind eine wunderbare Gelegenheit.

Eine Alternative wäre es, eigene Schwimmbäder in jeder Stadt zu errichten, um den vielen muslimischen Frauen, die an die Verhüllung glauben und sich daran gewöhnt haben, das Schwimmenlernen zu ermöglichen.

Aus eigener Erfahrung halte ich diese Maßnahme für eine der wichtigsten Notwendigkeiten für das körperliche und psychische Wohl von Frauen. Sie in die Tat umzusetzen, würde die Glaubwürdigkeit und Fortschrittlichkeit Islamischer Organisationen um ein mehrfaches verbessern.

Mit dem ausschließlichen Bau von Moscheen ist das bisher nicht gelungen.

Die Autorin: Emel Zeynelabidin, 1960 in Istanbul geboren und seit 1961 in Deutschland lebend, heiratete gleich nach dem Abitur, bekam 6 Kinder, studierte Anglistik und engagierte sich jahrelang ehrenamtlich in der Islamischen Vereinsszene. Ihr Vater ist der Gründer der 1. Islamischen Organisation in Deutschland, die heute unter dem Namen Milli Görüs bekannt ist. Emel Zeynelabidin war über 30 Jahre lang Kopftuchträgerin, bis sie vor über 3 Jahren dieses Bekleidungsstück aus religiöser Überzeugung ablegte. Ihre Entscheidung zog für sie soziale Nachteile innerhalb der islamischen Gemeinde nach sich. Seitdem engagiert sie sich öffentlich für die Verständigung zwischen der Welt der verhüllten und der Welt der nicht-verhüllten Menschen. Im April 2007 erhielt sie für ihr Auftreten den Lutherpreis „Das unerschrockene Wort“.

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