Gastautor / 20.12.2008 / 08:08 / 0 / Seite ausdrucken

Emel Zeynelabidin: Kopftuchpolitik als Reifeprüfung

In einem Interview zur aktuellen Auseinandersetzung mit Islam und Muslimen forderte Innenminister Wolfgang Schäuble ivor kurzem n der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, „den Muslimen Zeit zu geben“. Er setzt auf wechselseitiges Kennenlernen, auf Nähe und Kommunikation als Mittel für die Veränderung von Vorurteilen. Sein Maßstab für diesen Idealismus sind Erfahrungen aus der eigenen Geschichte, auch positive Erfahrungen in seiner Kindheit mit ausländischen Nachbarn.

Es gibt nun seit über drei Jahrzehnten islamische Organisationen als Interessenvertretungen in der deutschen Öffentlichkeit. Man könnte sich fragen, warum es dennoch zu Misserfolgen der deutschen Integrationspolitik und zur Ignoranz und Entfremdung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen gekommen ist. Ich meine, der Grund dafür liegt darin, dass die islamische Organisationen Menschen repräsentieren, die in einer säkularen Gesellschaft auf ihre Religionszugehörigkeit reduziert werden. Dadurch ist eine Parallelwelt entstanden, die es ermöglicht, eine aus- und abgrenzende Minderheitenpolitik zu betreiben. Es ist diese Parallelwelt, in der das eigene Gottes- und Menschenbild, die Einteilung in Gläubige und Ungläubige, in Erlaubtes und Verbotenes eine Bestätigung finden kann.

Ein wichtiges Instrument für den politischen Einfluss Islamischer Organisationen sind Definitionen und Interpretationen religiöser Quellen.
Im vergangenen Jahr wurde ein Fall bekannt, verhandelt vor einem Frankfurter Gericht. Eine nicht-muslimische, deutsche Richterin hatte die sogenannten Züchtigungsverse im Koran herangezogen, um ein arabisches Ehepaar nicht sofort zu scheiden, weil Gewalt gegen die Frau schließlich im Koran seine Legitimation habe und deshalb in der Herkunftskultur des Ehepaares die Norm sei. 

Die Islamische Religionsgemeinschaft Hessen (IRH) verurteilte damals das Verhalten der Richterin, weil sie für ihre Argumentation auf die Quellen des Islam anstelle auf die geltende Gesetzgebung Deutschlands Bezug genommen habe, welches die Gleichberechtigung von Mann und Frau verlange. In einer Presseerklärung der IRH hieß es weiter, dass diese “Züchtigungsverse” mit dem dort „transportierten Frauenbild und dem Verhältnis der Geschlechter im historisch-gesellschaftlichen Kontext zu verstehen“ seien und nur im „Gesamtgeist des Koran, der die Liebe als eigentliches Fundament der zwischenmenschlichen Beziehung preise“, gelesen werden könnten. Was für ein herrliches Argument war da in die Welt gesetzt worden! Ein Argument, das für manch einen Muslim die Rettung aus der Argumentationsnot sein könnte. Es verwundert mich, dass eine große, angesehene islamische Organisation sich das Recht der freien Interpretation nimmt und ganz einfach proklamiert, dass diese Empfehlungen bei Konflikten zwischen Eheleuten als „in Raum und Zeit eingebundene Aussagen“ zu gelten haben und deshalb heute keine Anwendung mehr finden würden. Ich meine aber, dass es sich bei diesen Empfehlungen nicht um die Legitimation von Gewalt gegen Frauen, sondern um die Disziplinierung von Männern handelt, die zu Gewalt neigen.

Angesichts der aktuell verbreiteten häuslichen Gewalt sehe ich in den damaligen Empfehlungen deshalb einen praktisch anwendbaren Ansatz. Es ärgert mich sehr, dass die IRH mit ihrer Stellungnahme die Richterin anklagt und bestrebt ist, einer öffentlichen Auseinandersetzung zu diesem Gewaltthema im Kontext der göttlichen Empfehlungen lieber aus dem Wege zu gehen.

Wo ist hier der verantwortungsvolle Umgang mit Maßstäben und Beurteilungen, mit Definitionen und Interpretationen zu erkennen? Genauso befremdend wird mit dem Kampf um das„Kopftuch“ verfahren, das auf den Köpfen der Frauen zu einem sichtbaren Zeichen einer Minderheitenpolitik geworden ist.

Ich erlebe, seit ich vor über drei Jahren meine Kopfbedeckung abgelegt habe, wie die Vorstellung von richtig und falsch, gut und schlecht über diese Äußerlichkeit – das Kopftuch – noch stark gefördert wird: Frauen, die sich verhüllen sind gut und haben einen starken Glauben, und Frauen, die sich vom Kopftuch verabschieden, sind zu bedauern und haben einen schwachen Glauben. Wichtig erscheint mir deshalb, ein Gleichgewicht zwischen diesen sich gegenseitig verurteilenden Positionen von richtig und falsch mit religiöser Rechtfertigung herzustellen, damit Frauen, die ihr Kopftuch bewusst ablegen, aus den eigenen Kreisen nicht mehr diskriminiert werden.

Es ist gerade Aufgabe islamischer Organisationen und islamischer Medien, sich dieses inneren Konflikts endlich konsequent anzunehmen, denn das Tragen eines Kopftuchs hat heute für das Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen, also für Annäherung und Verständigung, mehr Nachteile als Vorteile. Außerdem sind muslimische Frauen dem Druck ausgesetzt, mit gesellschaftlicher Ablehnung und beruflichen Einschränkungen umzugehen, aber auch ihre Privatsphäre ständig verteidigen zu müssen. Für viele Frauen sind das psychische Dauerstrapazen. Aber wen interessiert das? Das Vorbild des Propheten Muhamed, der sich ausdrücklich für das Wohl der Frauen einsetzte, spiegelt sich im Umgang mit diesem Konflikt bei den männerdominierten Islamischen Organisationen jedenfalls nicht wider. Deshalb muss gefragt werden, was diese unter sozialer Verantwortung für muslimische Frauen und die nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaften verstehen, wenn sie heute ein Kleidungsstück mit Religion in Verbindung setzen, wodurch jeder Versuch einer Kritik und einer genaueren Auseinandersetzung damit automatisch als Angriff auf die Religion verstanden wird.

Das Kopftuch wird heute als Teil der Ganzkörperverhüllung der Frauen mit Religion rechtfertigt, obwohl diese Verhüllung zur Zeit der Einführung vor 1400 Jahren eine praktische Maßnahme war, um die entspannte Kommunikation zwischen Frauen und Männern zu ermöglichen. Aber eben dies ist keine Frage der Religion. Die Menschen zur Zeit des Propheten vor über 1400 Jahren lebten in der Wüste. Sie kannten weder Regen noch die Kälte eines Winters. Sie schützen sich gegen die Hitze der Sonne und vor dem Wüstensand mit einem Tuch, dessen Enden nach hinten geschlagen waren. Das Tuch hatte eine wichtige Funktion für das Leben dieser Menschen. In der fortgeschrittenen Gründungsphase des Islam, in Medina, wurden die Themen „Belästigung durch Männer, Schutz der gläubigen Frauen, Kommunikation durch Schaffung von Distanz“ plötzlich aufgrund von zwei störenden Ereignissen aktuell. So sollten die Männer damals mit einer veränderten Bekleidung der Frauen diszipliniert werden. Es wurde eine Verhüllungsempfehlung als optische Unterscheidung der gläubigen Frauen von den leicht bekleideten Sklavinnen offenbart, nachdem eine der Frauen des Propheten beim Verlassen ihres Hauses von Omar erkannt wurde. Er wollte sie wahrscheinlich vor Belästigungen bewahren, weil sie ja keine Sklavin war. Es war damals üblich für alle Frauen, sich mit ihren weiblichen Reizen eher freizügig zu geben als sich bedeckt zu bekleiden.

Nachdem dann auch ein geschmücktes Dekoltee einen Mann dermaßen ablenkte, dass dieser gegen eine Mauer lief und sich dabei die Nase brach, kam die Verhüllung der gläubigen Frauen zum vollen Einsatz.

Diese praktische Maßnahme in ihrem historischen Kontext gesehen, ist gut nachvollziehbar, aber der moderne Mensch fragt sich, ob diese Umstände heute noch vorliegen, die zu diesem unverhältnismäßigen Ausmaß von politischem Kampf um die Legitimation eines Unterscheidungsmerkmals und einer Maßnahme von vorgestern führen. Meine umfangreichere Auseinandersetzung mit den historischen Quellen und meine praktischen Erfahrungen ohne Verhüllung seit über drei Jahren brachten mich zu dem Ergebnis, dass gerade diese ständig herangezogenen beiden Verhüllungsverse im Koran als „in Zeit und Raum eingebundene Aussagen“ zu verstehen sind und heute nicht mehr angewendet werden müssen. Warum, um alles in der Welt, bedienen sich islamische Organisationen hierbei nicht dieser Erlaubnis zur freien Interpretation, als vor fünf Jahren die Kopftuchdebatte mit der Klage der afghanischen Lehrerin entbrannte und sich bis heute als öffentliches Dauerthema ohne absehbares Ende hält?

Mit einem entwickelten Verständnis von sozialer Verantwortung islamischer Organisationen und einer am universalen Wesen der Offenbarungen orientierten Vorstellung wäre damals die Klage der afghanischen Lehrerin vor dem höchsten Gericht Deutschlands vielleicht auf eine vernünftigere Weise gelöst worden. Eine den Interessen von Frauen dienliche Interpretation hätte der gesellschaftspolitischen Entspannung und dem „die Liebe als Fundament in jeglichen Beziehungen preisenden Gesamtgeists des Korans“ entsprochen.

Die Diskrepanz zwischen kollektivem Praktizieren von Verhaltensformen im Namen von Religion, die auf eine alte Zeit zurückgehen, und der notwendigen Anpassung an die Gegenwart ist zu einer Überforderung für das solidarische und produktive Zusammenleben von Menschen verschiedener Meinungen in einer pluralen Gesellschaft geworden.

Es fällt mir schwer, in diesem Kontext die Forderung von Wolfgang Schäuble, den Muslimen Zeit zu geben, einzuordnen. Wir brauchen eine Politik, die diese festgefahrene Lage mit Zivilcourage und Kompetenz neu belebt, um islamische Organisationen aus ihrer Sackgasse in die Gegenwart zu holen. Staatliche Auflagen und Fristen, um diese zu interner Auseinandersetzung und Aufklärung - nicht nur über das Kopftuch - zu bewegen, wären eine dringende Maßnahme. Die Hürde mit dem Kopftuch muss noch genommen werden, denn sie ist eine Prüfung für den Fortschritt in den Köpfen aller.

Die Autorin: Emel Zeynelabidin, 1960 in Istanbul geboren und seit 1961 in Deutschland lebend, heiratete gleich nach dem Abitur, bekam 6 Kinder, studierte Anglistik und engagierte sich jahrelang ehrenamtlich in der Islamischen Vereinsszene. Ihr Vater ist der Gründer der 1. Islamischen Organisation in Deutschland, die heute unter dem Namen Milli Görüs bekannt ist. Emel Zeynelabidin war über 30 Jahre lang Kopftuchträgerin, bis sie vor über 3 Jahren dieses Bekleidungsstück aus religiöser Überzeugung ablegte. Ihre Entscheidung zog für sie soziale Nachteile innerhalb der islamischen Gemeinde nach sich. Seitdem engagiert sie sich öffentlich für die Verständigung zwischen der Welt der verhüllten und der Welt der nicht-verhüllten Menschen. Im April 2007 erhielt sie für ihr Auftreten den Lutherpreis „Das unerschrockene Wort“.

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