Gastautor / 05.10.2020 / 06:15 / Foto: Tobias Koch / 217 / Seite ausdrucken

Eine weitverbreitete Lust, Meinungen abzudrängen

Von Wolfgang Kubicki.

Beginnen wir (...) mit einer alarmierenden Erkenntnis: Ich kann mich an keine Phase der Bundesrepublik erinnern, in der es um die Freiheit der Meinung so schlecht bestellt war wie heute. Nicht, weil wir nicht alles sagen dürften. Im Gegenteil: Jeder Mensch, wirklich jeder, hat vor allem durch die sozialen Medien die Möglichkeit, so viel Bühne für seine geistigen Ergüsse zu haben, wie er möchte. Und seien sie noch so simpel, ekelhaft oder dumm.

Es ist um die Freiheit der Meinung heute deshalb so schlecht bestellt, weil die Offenheit und die Vorurteilsfreiheit für andere Meinungen noch nie so schwach ausgeprägt waren. Man kann zwar alles sagen, wird aber nicht mehr differenziert gehört. Die Bereitschaft, dem anderen zuzuhören, sinkt stetig. Eher wird die einzelne Meinung in eine bestimmte Schublade gesteckt, der Meinende mit einem Emblem versehen, auch um gewissermaßen eine allgemeine Komplexitätsreduktion vorzunehmen.

Hinzu tritt eine weitverbreitete Lust, Meinungen, die von einem bestimmten Pfad abweichen, abzudrängen und aus dem angeblichen gesellschaftlichen Konsens herauszudefinieren. Das ist deshalb undemokratisch, weil das Hauptziel unserer Demokratie die friedliche Integration von Meinungen und Interessen ist, nicht deren Ausgrenzung.

Wenn die Kanzlerin politisch von der Mehrheitsmeinung beeinflusst wird

Der aktuellen öffentlichen Debatte mangelt es leider an Respekt für den Abweichler. Das ist deshalb sehr bedenklich, weil gerade die abweichenden Meinungen für den Fortschritt unabdingbar sind. Verzichten wir also dauerhaft auf den Störenfried des Mainstreams, grenzen wir ihn aus, stornieren wir seine unbehagliche Auffassung, dann verzichten wir mittelfristig auch auf die neue Sichtweise, die bessere Idee, den eigentlichen Fortschritt. Nur die saturierte Gesellschaft kann es sich erlauben, bequem im Sessel sitzenzubleiben. Sie wird dann jedoch erleben, dass sie irgendwann nicht mehr aufstehen kann.

Leider hat die Bundesregierung in den vergangenen Jahren viel dafür getan, dem Mainstream das politische Ruder zu überlassen – mit allen Konsequenzen für die politische Dynamik des Landes. Der Spiegel berichtete bereits 2014 in einem bemerkenswerten Artikel über den großen Einfluss von Meinungsumfragen auf die politische Agenda der Bundeskanzlerin Angela Merkel. Es offenbarte sich, dass die vom Bundespresseamt in Auftrag gegebenen Umfragen (etwa 600 in einer Legislaturperiode) nicht nur die Rhetorik, sondern auch die inhaltliche Positionierung der Bundesregierung verändert hätten. (1) Diese Einschätzung wurde im Mai 2020 vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) noch einmal bestätigt. (2)

Wenn die Kanzlerin also politisch von der Mehrheitsmeinung beeinflusst wird, heißt das, dass sie die politische Dynamik der Gesellschaft überlässt – anstatt selbst eine politische Dynamik auf die Gesellschaft zu entfalten. Das kann man selbstverständlich machen. Die Kanzlerin wurde ja auch immer wieder gewählt. Damit reagiert sie aber eher, als dass sie regiert.

Der demokratische Streit muss ohne Stigmatisierung geschehen

Aus dieser Sorge um unsere Demokratie erwächst die Frage an alle Demokraten: Was ist unsere heutige Aufgabe, um die Meinungsfreiheit künftig erhalten und verteidigen zu können?

Die Aufgabe aller Demokraten muss es sein, für die Toleranz der Mindermeinung in der öffentlichen Debatte zu streiten – und nicht, diese wert- und wortlos unter den Tisch fallen zu lassen. Möchten wir unsere demokratische Kultur erhalten, muss diese Toleranz immer wieder gelebt und eingeübt werden. Wir kommen nicht umhin, den anderen zuzuhören, wenn wir als demokratische Gesellschaft weiterleben wollen. Dabei ist es unsere Pflicht, sowohl den Lauten zuzuhören, die unüberhörbar schreien, als auch den Leisen, die vielleicht die besseren Argumente haben. Der demokratische Streit muss deshalb ohne Stigmatisierung, Schubladenfixierung und Verunglimpfung des anderen geschehen; und ohne Vereinfachung der Meinungsäußerung, deren verkürzte Verzerrung und ohne das moralische Unwerturteil. Das heißt auch, dass wir uns alle an die demokratischen Spielregeln halten müssen. Das Spielfeld, auf dem wir uns bewegen, wird von den Leitlinien unserer Verfassung begrenzt.

Die Aufgabe der Demokraten ist die Überwindung der vielfach grassierenden Angst. Diese wird aus politischen Gründen gezüchtet, wenn beispielsweise Greta Thunberg allen Nicht-Schülern auf der Welt „I want you to panic“ zuruft. Angst hat sich leider in den vergangenen Jahren auch zum medialen Lebenselixier entwickelt, weil die Warnung vor Gefahren die Klickzahlen, die Auflage und die Einschaltquoten steigert. Und diese Angst ist genau dann politisch wirksam, wenn man sie benutzt, um Verhaltenskonformität zu erzielen. Sie lähmt und erschwert die Veränderung zum Besseren.

Eine freie, demokratische und mündige Gesellschaft ist daher eine möglichst angstfreie Gesellschaft. Sie fürchtet die andere Meinung nicht, sondern sieht diese vielmehr als Bereicherung an. Abgesehen vom Papst kann niemand für sich in Anspruch nehmen, unfehlbar zu sein. Deshalb verhilft uns der Widerspruch entweder zu einer neuen Sichtweise oder zu einer Schärfung unserer Argumente. Haben wir also Mut zur Debatte und zum Widerspruch!

Unsere Freiheit ist nun einmal nicht einfach zu haben

Die Aufgabe der Demokraten ist deshalb auch, eine positive Position zu Veränderungen zu kultivieren. Es ist demokratisch, Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten, darüber mit anderen zu streiten und für seine Idee einzustehen. Ein Demokrat grenzt sich auch von anderen ab – aber nicht destruktiv, sondern positiv begründend. Undemokratisch sind die Ablehnung jeglicher Veränderung und die destruktive Kritik um des Kritisierens willen.

Die Aufgabe der Demokraten ist, keine absoluten Wahrheiten zu akzeptieren. Es gibt weder ein Ende der Geschichte noch abschließende Gewissheiten, „die“ Wissenschaft oder alternativlose Politik. Wir müssen immer wieder darauf hinweisen, dass jede Zeit, jede neue Situation Fragen an unsere bisherigen Lösungen stellt. Das, was richtig ist, ist in einer Demokratie stets eine Frage des gesellschaftlichen Aushandelns. Dafür bedarf es eines kritikfreudigen und offenen Diskussionsklimas.

Die Aufgabe der Demokraten ist die ständige Besinnung auf die Menschlichkeit. Wir können uns über den anderen und seine Meinung ärgern, sollten ihm aber nicht automatisch den guten Willen absprechen oder ihm gar mit Verachtung begegnen. Intoleranz haben die Gegner unserer Verfassung verdient. Alle anderen verdienen Respekt.

Zugegeben, das alles ist schwierig. Aber unsere Freiheit ist nun einmal nicht einfach zu haben.

Dies ist ein Auszug aus Wolfgang Kubickis neuestem Buch „Meinungsunfreiheit. Das gefährliche Spiel mit der Demokratie“, 160 Seiten, Westend Verlag, hier bestellbar.

 

Anmerkungen:

(1) Kurt Sagatz: „Schadet ‚Don Alphonso‘ dem Medienpreis Parlament?“ tagesspiegel.de vom 14. August 2020: (abgerufen am: 17. August 2020).

(2) Gegen „'Tugendterror' und Vorschriften für Gendersprache“, stuttgarter-zeitung.de vom 2. August 2020: (abgerufen am 17. August 2020).

Foto: Tobias Koch

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Gundela Casciato / 05.10.2020

Also Herr Kubicki, soll das jetzt eine Handreichung an die bösen rechten Medien und deren Leser und Unterstützer sein??? So in der Art, ja wir verstehen und brauchen euch, denn ohne euch Andersdenkende ist gelebte Demokratie und Meinungsfreiheit zum Wohle aller gar nicht möglich. Ich bin der festen Überzeugung, dass kein Mensch, auch Sie nicht, mit denen reden will, welche weit, weit über ihren eigenen Tellerrand hinaussehen und dort die Gefahren der Spaltpolitk, welche die BK mit Hilfe der Mainstreammedien seit Jahren betreibt, beim Namen nennen. Man will uns allenfalls einfangen, wieder zum Gutmenschentum bekehren, denn wir werden immer mehr und in der kommenden Weltwirtschaftskrise werden viele, welche jetzt aus Angst um ihren Arbeitsplatz die Klappe halten eben diese weit und laut aufreißen voller Empörung, dass sie, obwohl sie immer artig dem Mainstream gefolgt nun überflüssig sind und aussortiert werden. Wir werden sehen, was das nächste Jahr bringt….in jedem Fall noch mehr Masken, noch mehr Kurzarbeit, steigende Arbeitslosigkeit, doch in keinem Fall einen breiteren GEDULDETEN Meinungskorridor.

Frank Mora / 05.10.2020

Gut gebrüllt, Löwe! Aber warum bezieht der Bundestagsvizepräsident nicht eindeutig Stellung gegen die seit Jahren mit absurden Taschenspielertricks erfolgende oder besser nichterfolgende Wahl eines Vertreters der größten Oppositionspartei in des Parlamentspräsidium? Etwa indem er und die anderen Vertreter der Kleinfraktionen sein Amt zur Verfügung stellt? Der Kieler Anwalt wäre dazu intellektuell und finanziell sicher in der Lage. Bei Frau Roth bin ich mir da nicht so sicher. Sowohl als auch.

Michael Liebler / 05.10.2020

Sehr geehrter Herr Kubicki, gut geschrieben. Leider sieht man in der Parlamentsarbeit der “Altparteien”, auch von der FDP, davon eher nichts. Es sieht eher so aus als hätte die FDP Angst vor der Mainstream-Meinung, Angst angeprangert zu werden. Angst konstruktiv zu arbeiten, auch wenn es sich thematisch anbietet mit der Parteien die zum Paria gemacht werden. Diese Angst macht mutlos, so das alle Chancen der letzten Jahre, auch gegen die Meinungskonformität und die Stigmatisierung anderer Meinungen anzutreten, ignoriert wurden. Noch ein Jahr um Gas zu geben, Stellung zu beziehen, diese zu verteidigen, denn Unmut derer zu ertragen die “die” Meinung machen wollen. Noch ein Jahr um den Bürgern zu zeigen, da ist jemand der für sie einsteht, der sich gegen den Wahnsinn des Zeitgeistes stemmt.  Mit Pfründeverteidigung wird über kurz oder lang jeder scheitern.

Hubert Bauer / 05.10.2020

Gerade Herr Kubicki neigt am Pult des amtierenden Bundestagspräsidenten dazu, Reden von AfD-Politikern mit negativen Kommentaren beim Abgang des Redners zu kommentieren. Das ist mir schon öfter unangenehm aufgefallen. Hier ist er sogar schlimmer als Claudia Roth wenn sie auf diesem Platz sitzt. Bevor Herr Kubicki über Meinungsfreiheit redet oder schreibt soll er sich lieber erst mal selber fragen, wie er es mit der Meinungsfreiheit Andersdenkender (!) hält.  Ich finde es falsch, dass die Achse Politikern mit einer Doppelmoral eine Werbeplattform für ihre Bücher gibt.

Steffen Schwarz / 05.10.2020

Wir wissen jeder, das man auch der Achse seine Meinung soweit gesetzlich legitim frei darlegen kann Zweifelos kann Kubickis Buch rezensiert werden. Ich zweifele aber, ob er sich im klaren ist zumindest in großen Teilen eben jeder Gruppe anzugehören, die schon aus Machterhalt gern abgrenzt. Die Mitgliedschaft in einer Umfallerpartei gibt ein starkes Indiz. Wasch mir den Pelz aber mach mich nicht nass. Bücher schreiben kann jeder, die Konsequenz bleibt aus. Er hätte zumindest einige Mittel , um gegen AM und ihre Bodentruppen wirklich unbequem zu sein.

Manfred Lang / 05.10.2020

Sehr schöne demokratietheoretische Analyse und Beschreibung des gegenwärtigen Problems der Meinungsunfreiheit. Der Lackmus-Test für Kubicki besteht aber darin, dass er für die Andersdenkenden im Bundestag eintritt. Ich warte immer noch darauf, dass er das Wort ergreift und von seinen BT-Kollegen deutlich fordert, AfD-Kandidaten für das Amt des BT-Vizepräsidenten oder in das parlamentarische Kontrollgremium bzw. für Ausschuss-Vorsitze zu wählen. Da wird sein Demokratie- und Verständnis der Meinungsfreiheit konkret und für alle überprüfbar. Hic Rhodos hic salta!

Nico Schmidt / 05.10.2020

Sehr geehrter Herr Kubicki, Sie hier! Der Morgen kann nicht besser werden. Ich bin bestimmt nicht immer Ihrer Meinung, schätze sie aber sehr. Daher ein guter Rat für die Woche: Windjacke nicht vergessen. Es wird stürmisch werden. MfG Nico Schmidt

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