Rainer Bonhorst / 06.05.2014 / 22:54 / 3 / Seite ausdrucken

Ein Stecker für alle Löcher. Oder umgekehrt

Was ist das Hauptproblem Europas? Brüssel steht natürlich ganz oben auf der Liste der möglichen Antworten auf diese Frage. Aber die EU-Zentrale steht dort nicht allein. Mindestens zwei weitere Gebilde machen Brüssel den Rang streitig, die Spitze europäischer Großprobleme zu bilden. Das eine heißt Berlin, womit Bundesregierung und Bundestag gemeint sind. Das andere heißt Deutschland, womit die deutsche Wirtschaft und der deutsche Ordnungs- und Gründlichkeitssinn gemeint sind.

Bei jeder Unterhaltung mit Brüssel-Kundigen über den europäischen Regulierungswahn tritt früher oder später (meist früher) eine peinliche Tatsache zutage: Die meisten Regulierungen der EU, die uns so auf die Nerven gehen,  haben ihren Ursprung in einer deutschen Initiative.

Deutsche Unternehmen und Verbände haben offenbar den Bogen raus, sich durch europaweite „Harmonisierung“ ihrer Produkte einen länderübergreifenden Marktvorteil zu verschaffen. Sie tun dies mit Hilfe von Lobbyisten, von denen es in Brüssel derart wimmelt, dass sie auch bei Sonnenschein den Himmel verdunkeln. Die Lobbyisten umschwärmen die Brüsseler Bürokraten so sehr, dass diese, für die ja sonst keiner schwärmt, immer wieder errötend schwach werden. 

Warum die Deutschen besonders tüchtig im Erfinden und Verkaufen von Regulierungen sind, ist nur mit Hilfe der Ethno-Psychologie zu erklären. Und auch dies nur in Form von Fragen: Warum stehen deutsche Strand-Urlauber auf Mallorca am frühesten auf und legen ihre Handtücher auf die Liegestühle, obwohl sie am Abend vorher genauso viel gesoffen haben wie die zu spät kommenden Engländer? Warum haben die Deutschen die meisten Feiertage und die längsten Ferien und zugleich die höchste Produktivität am Arbeitsplatz? Es ist ein Phänomen, dessen letzte Urgründe nicht zu fassen sind.

Die von Deutschen losgetretenen Lawinen an Harmonisierungsregulierungen, haben auch technikkulturelle Wurzeln. Deutschland ist nun mal das Land der DIN-Norm. Die Vorstellung, dass ein Stecker nicht in alle Löcher passt, ist für einen deutsch sozialisierten Menschen unerträglich. Meistens ist das ja auch angenehm. Man kann sich auf die Stecker und auf die Löcher verlassen. Aber diese praktische Haltung kann eben auch zur Manie werden und zu kerzengeraden Gurken und Bananen führen, obwohl diese Produkte der Natur eigentlich nicht in der Welt der DIN-Normen beheimatet sind. Zwar sind die Gurken und Bananen inzwischen von Brüssel entnormt worden. Aber in Deutschland trauert man der Gurkennorm bis heute nach.

Diese mathematisch-geometrische Einstellung zur Welt führt fast zwangsläufig zu einer ausgeprägten Gründlichkeit, die man bei etwas bösem Willen auch Korinthenkackerei nennen kann. Für einen gestandenen deutschen Normierer sind die Regulierungen, die aus Brüssel zu uns kommen, die reinste Schlamperei. Viel zu kurz, viel zu allgemein, viel zu viel Spielraum. Darum wird fast jede Brüsseler Regulierung von deutschen Normgestaltern noch einmal richtig aufgemöbelt. Erst in unserem Land erfährt die ordinäre EU-Regulierung, die ja meist bereits absurde Züge trägt, ihre Überhöhung ins vollends Groteske.

Warum ist das so? Wir befinden uns hier wieder im Bereich der Ethno-Psychologie, aber nicht nur. Auch die Politik spielt hinein. Die von deutscher Hand ins Abwegige übersteigerte original Brüsseler Lachnummer hat einen entscheidenden Vorteil: Sie eröffnet den heimischen Politikern die Chance, sich wunderbar über die Regulierungswut der Eurokraten zu empören. Diese Kunst der Empörung lebt geradezu davon, dass die bloß ärgerlichen Brüsseler Regulierungsprodukte in Deutschland noch in Richtung Wahnsinn vollendet werden.

Hilfreich bei der Empörungspolitik ist auch die Tatsache, dass die deutschen Parlamente in Sachen Europapolitik im allgemeinen so lange schlafen, bis das Empörungsmaterial in Brüssel bereits hergestellt ist und nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Das Bundesverfassungsgericht hat die deutschen Abgeordneten darum vor einiger Zeit ermahnt, ihre europapolitischen Aufgaben besser wahrzunehmen. Das war ein Weckruf in einen Schlafsaal, wurde dort aber als Stärkung des Parlaments wahrgenommen. Dabei hatte es sich eigentlich selbst entkräftet.

In Berlin wird allerdings nicht nur passiv sondern auch aktiv geschlafen. Politisch Unangenehmes, das zu Hause nur Ärger bereiten würde, lässt sich wunderbar über Bande, nämlich über Brüssel und sein nur mit rudimentärer Macht ausgestattetes Europaparlament, zu uns re-importieren. Dann hat man, was man wollte, ohne großes Aufsehen erreicht und kann sich obendrein noch zum Schein von der unpopulären Maßnahme distanzieren. So kann Brüssel auch als bequeme Demokratie-Umgehungsmaschine dienen.

Als klammheimlicher Brüsselversteher muss ich noch erwähnen, dass die Eurokraten ja eigentlich in einem überwiegend nichtdeutschen Umfeld arbeiten. Also in einem Umfeld von 27 weiteren Ländern, in dem völlig andere Sitten herrschen als bei uns. Das hat natürlich dramatische Folgen.

Nehmen wir Italien als Beispiel und Kontrapunkt. Wer eine Vorschrift für Italiener formuliert, kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass sie dort weitgehend ignoriert wird. Was also tun, damit man nicht völlig sinnlos arbeitet? Man formuliert die Vorschrift taktischerweise ein bisschen strenger als unbedingt notwendig, um in der Praxis wenigstens eine Teilwirkung zu erzielen. 

Kommt aber eine solche aus italo-taktischen Gründen streng formulierte Vorschrift in Deutschland an, so wird sie hier sogleich bitterernst genommen. Das bedeutet erstens: Sie wird, um der deutschen Gründlichkeit genüge zu tun, noch deutlich verschärft. Und zweitens wird sie bis auf den letzten Buchstaben getreu durchgesetzt, und zwar unter Androhung der vollen Wucht des Gesetzes für den Fall des Zuwiderhandelns.

Kurz und gut: Eine Regulierung, die in Brüssel allenfalls mit dem Hauch des Lächerlichen geboren und in Italien einfach lächelnd ignoriert wird, wächst sich in Deutschland zum Monster aus.

Daraus folgt: Brüssel mag für Deutschland ein Problem sein. Aber das größte europäische Problem für Deutschland ist Deutschland selber. Wenn Deutschland die Europäische Union verließe, müsste es sich immer noch mit sich selbst herumärgern. 

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Dr. Gerd Brosowski / 08.05.2014

Angenommen, unter den Bienenschwarm – oder Wespenschwarm – der Lobbyisten, die in Brüssel herumschwirren, habe sich ein Engel verirrt. Einer, dem an den Verbrauchern, der halben Milliarde Menschen in der EU, auf die alle Verordnungen herunterregnen, gelegen ist. Was wäre denn ein Thema für den Engel der Verbraucher ? Hier ist eines: Der in die sog. langlebigen Verbrauchsgüter wie Autos, Kühlschränke, Waschmaschinen, Mobiltelefone eingeplante und gezielt eingebaute vorzeitige Verschleiß, jene überall eingebauten Teile, welche aus dem langlebigen Produkt absichtlich ein kurzlebiges machen. Es gibt zahlreiche Fernsehsendungen zu diesem Thema, der Sache selbst wird von den Produzenten nur halblaut, wenn überhaupt widersprochen. Wie denn auch, wenn angehenden Ingenieuren schon im Studium eingebläut wird,  den Produkten ihr vorzeitiges Ende mit auf den Weg zu geben. Rascher Verfall garantiert. Und das in einer Zeit, in dem jedes zweite Wort im politischen Vokabular aus der Wortfamilie der „Nachhaltigkeit“ stammt. Da die beschriebene Tücke europaweit, vielleicht schon weltweit verbreitet ist, wäre dies eine Aufgabe unserer Vertreter in Brüssel. Engel der Verbraucher und der Nachhaltigkeit: Blas auf deiner Posaune!  

Axel Wahlder / 07.05.2014

Überhaupt EU. Ungarn ist deren Mitglied, Norwegen nicht. Wer aber würde meinen, Norwegen sei minder EU-besinnt, als Ungarn? Das - gelinde gesagt.

Otto Sundt / 07.05.2014

Die größten und mächtigsten Lobbyorganisationen in Brüssel waren schon in den 80er Jahren der DGB und die deutschen Unternehmensverbände. die zwar getrennt marschierten aber ansonsten in Sachen Harmonisierung kooperierten. Gemeinsames Ziel war der Erhalt deutscher Wettbewerbsfähigkeit durch die Setzung von Standarts. die andere nie erreichen konnten. Beim DGB und seiner Brüsseler Filiale lief diese Strategie unter dem Stichwort “Harmonisierung der Arbeitswelt”. die nie erreicht wurde. aber den anderen Ländern weitgehend ihre komparativen Vorteile beraubte. Besonders deutlich wird dies am Beispiel von Entsenderichtlinien. um deutsche Hochlohnsektoren zu schützen. Alle von Brüssel ausgehenden Umweltschutzrichtlinien dienten fast ausschließlich dazu der deutschen Industrie Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Ebenso verhält es sich mit dem Klimaschutz, dem 1996 erfundenen Geschäftsmodell unserer heutigen Kanzlerin. Deutsche Unternehmen und Arbeiter profitierten von der Lobbyarbeit der Gewerkschaften, die natürlich immer auf die bösen Lobbyisten schimpfen, überdurchschnittlich. Zunächst galt die auch für das deutsche EEG, welches z.B. in Spanien fleißig imitiert wurde, bevor erkannt wurde, das es die Finanzen des spanischen Staates überfordert, eine Erkenntnis die in Deutschland noch aussteht, so wie die Erkenntnis aussteht, dass supra- oder internationaler Merkantilismus kein erfolgreiches Geschäftsmodell sein kann

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