Vera Lengsfeld / 05.08.2012 / 15:33 / 0 / Seite ausdrucken

Dunkelhaft für Minderjährige - so schön war die DDR

Für das erste Drittel des neuen Buches von Grit Poppe “Abgehauen”, Hamburg 2012, braucht man gute Nerven. Die Autorin beschreibt hier eines der finstersten Kapitel der DDR: Dunkelarrest im Jugendgefängnis Torgau, das, wie uns ein Öffentlich-Rechtlicher Sender unlängst durch ein Interview mit der Bildungsministerin Margot Honecker, zu deren Zuständigkeitsbereich Torgau gehörte, wissen ließ, nur „Straftäter“ beherbergt hätte.

Überwiegend bestand die „Straftat“ darin, zu oft aus dem „normalen“ Jugendwerkhof oder dem Kinderheim ausgebrochen zu sein. In Torgau sollten die „schwererziehbaren“ Jugendlichen für den Sozialismus abgerichtet werden. Das sah so aus: bei der Einlieferung wurden allen, auch den Mädchen, die Haare geschoren. Alles Private wurde abgenommen. Männliche Erzieher überzeugten sich in den Körperöffnungen der Mädchen, dass nichts in die Anstalt geschmuggelt wurde. Man gewöhnte sich besser dran, nackt vor diesen Männern stehen zu müssen. Sie überwachten später auch das Duschen.

Es herrschten strengste Disziplin und Kasernenhofdrill. Beliebt bei den „Erziehern“ war der „Torgauer Dreier“, eine Kombination aus Liegestütz, Hockstrecksprüngen und Hocke, die bis zur völligen Erschöpfung ausgeführt werden mussten. Oder „Entengang“ die Treppen hoch und runter, bis zum Liegenbleiben. Es konnte Einzelne oder die Gruppe jederzeit treffen: weil einer die Norm nicht erfüllte beim Zusammenschrauben von Waschmaschinenschaltern für die sozialistische Produktion, für unerlaubte Gespräche während der Arbeitszeit oder der Nachtruhe, wegen unsachgemäß ausgeführter Meldungen oder eines schlecht gebauten Bettes. Krank werden galt nicht. Wer sein Essen erbrach, wurde gezwungen, das Erbrochene aufzuessen. Die Zellenfenster waren mit Sichtblenden verkleidet. Kein Blick nach draußen sollte Trost spenden.

Der Höhepunkt der Tortour war aber die Dunkelhaft im Keller, der Jugendliche für geringe Vergehen ausgesetzt werden konnten. Poppes Heldin Gonzo lernt der Leser kennen, als die Sechzehnjährige versucht, eine solche Dunkelhaft bei rohem Sauerkraut zu überstehen. Als ein Erzieher sie am zweiten oder dritten Tag in ihre Zelle kommt mit dem Angebot, sie könne ihre Haft abkürzen, wenn sie nett zu ihm sei, würgt es Gonzo und sie speit ihm das Brot ins Gesicht, das er ihr zur Belohnung mitgebracht hatte. Gonzo wird nicht vergewaltigt, muss aber weitere Tage im finsteren Keller zubringen. Am Ende hat sie Halluzinationen, die sie auch noch heimsuchen, nachdem sie ihr Verlies verlassen durfte.

Bei der Überführung in ihren Stammwerkhof gelingt Gonzo die Flucht. Sie trifft auf René, der in den Westen abhauen will. Es ist Spätsommer 1989, die Prager Botschaft der Bundesrepublik ist bereits besetzt.
Den beiden gelingt ein illegaler Grenzübertritt in die Tschechoslowakei, sie kommen nach Prag und dort tatsächlich auf das Botschaftsgelände.

Der zweite Teil des Romans ist nicht mehr gruselig, dafür spannend. Grit Poppe beschreibt den Zustand in der besetzten Botschaft, als wäre sie dabei gewesen. Man kennt die Fernsehbilder als Außenminister Genscher verkündete, dass die Besetzer ausreisen könnten. Was sich in den Wochen davor abgespielt hat, als sich tausende Menschen auf engstem Raum zusammendrängten, weil sie der DDR um jeden Preis entkommen wollten, ist fast so unbekannt geblieben, wie die Verhältnisse in Torgau. Grit Poppe gelingt ein eindrückliches Bild , was Menschen zu ertragen imstande sind, die Freiheit wollen.

Gonzo sitzt im ersten Ausreiserzug, der von Prag abgeht. Sie muss noch mal durch die DDR fahren, wo in Reichenbach die Stasi zusteigt, um den Ausreisenden die Personalausweise abzunehmen. Gonzo hat keinen. Auf die gebrüllte Frage des Stasimannes: Name? antwortet sie: „Ich heiße Mensch“.

Wie ein Mensch wird sie sich fortan fühlen, auch wenn das Gespenst aus den Torgauer Keller sie noch auf unbestimmte Zeit begleiten wird.  Zum Schluss ist Gonzo klar, dass sie an den Ort ihrer Leiden zurück muss, um die Keller-Halluzinationen loszuwerden. Das Jugendgefängnis ist nach dem Mauerfall stillschweigend aufgelöst worden. Die Sichtblenden der Zellenfenster und der Stacheldraht sind bereits abmontiert und verrotten im Hof, wo langsam das Unkraut die Herrschaft übernimmt.

Die Elbe ist nah, die Adresse, Im Fischerdörfchen, lautet so harmlos, dass niemand dahinter das Grauen vermuten kann, das dort den Alltag beherrschte. Die Anstalt wurde geräumt und dem Vergessen überlassen. Gonzos neue Aufgabe ist, dieses Vergessen zu verhindern.

Ich widme diese Rezension meinen Freunden Kerstin Kuzia und Stefan Lauter, die durch die Torgauer Hölle gehen mussten und deren Berichte wichtige Bausteine für Poppes Buch waren.
Kerstin, die in Folge ihres Aufenthaltes in Torgau invalid ist,  berät heute unentgeltlich ehemalige Heimkinder der DDR. Die verantwortlichen Beamten des Berliner Senats haben eine Förderung abgelehnt.

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