Vera Lengsfeld / 03.02.2009 / 17:11 / 0 / Seite ausdrucken

Dritter Februar 1989/2009

Der DDR-Partei-, und Staatschef Erich Honecker und der Ministerpräsident von Schleswig- Holstein Björn Engholm plädieren für „normale Beziehungen“ zwischen der DDR-Volkskammer und dem Deutschen Bundestag. Engholm müsste dabei eigentlich ganz klar sein , dass die Volkskammer kein frei gewähltes demokratisches Parlament ist. Er hätte sich von seinen Referenten auch sagen lassen können, dass die Volkskammer gar kein arbeitendes Parlament war. Die Abgeordneten verfügten weder über Büros, noch über Mitarbeiter. Wenn die Volkskammer einmal im Jahr zusammen kam, dann nur, um alle Vorlagen einstimmig zu beschließen. Es konnte kein Austausch zwischen Ausschüssen stattfinden, denn es gab in der Volkskammer keine. Unter diesen Bedingungen konnte es keine „normalen“ Beziehungen geben. Engholm hat mit seiner Beteiligung an einer solchen Erklärung zur Irreführung der westlichen Öffentlichkeit beigetragen.
Statt die Einhaltung der demokratischen Standards zu fordern, zu denen sich die DDR mit der Unterzeichnung der Helsinki-Akte verpflichtet hat, hilft er , das Honecker- Regime zu legitimieren..
Das es auch anders geht, beweist diese Rede, die Lea Rosh, SPD-Mitglied seit 30 Jahren, kürzlich vor der Fraktion der Linken im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern, anlässlich des von der Linken gestifteten Courage-Preises gehalten hat:
Sie vergeben heute einen Courage-Preis. Ich soll, darf dieses Vorhaben würdigen. Natürlich habe ich mir angesehen, wer diesen Preis im vorigen Jahr bekam, wer ihn in diesem Jahr bekommt. Und wofür der Preis verliehen wird.
Verdient! Wunderbares Engagement! Ich drücke meine Anerkennung aus, solche Leute braucht unser Land. Und zwar überall, nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern.
Ich habe aber nicht den Preisträger und seine Verdienste zu würdigen, das kommt etwas später. Von mir wird erwartet, dass ich zum Thema „courage“ spreche.
Was ist das, heutzutage, courage. Wozu, wann brauchen wir courage hierzulande?
In Russland, wie wir gerade wieder erleben mussten, da kann man von courage sprechen. 2 Tote, ein Anwalt, eine Journalistin, 2 Menschen auf der Strasse erschossen, und das nach dem Mord an Anna Politkowskaja. Da wird man doch ganz kleinlaut, verneigt sich vor diesen Opfern.
Damit will ich die Verdienste der von Ihnen heute Auszuzeichnenden wirklich nicht kleinreden. Und noch weniger will ich die Taten der Rechten, gar der Rechts-
Extremisten kleinreden. Nur die Relationen müssen zurechtgerückt werden, 
wir müssen wissen, wovon wir reden, wenn wir von „Mut“, von „courage“ reden.
Wenn Leute zu mir kommen und mir sagen, dass sie meinen Mut bewundern für das, was ich gemacht und erreicht habe, muss ich dieses Kompliment zurückweisen.
Ich sage ihnen:  Alles in allem leben wir in einer Demokratie, einem Rechtsstaat. Da kann einem nicht viel passieren, da kann es höchstens ein bisschen ungemütlich werden, wenn man sich nicht angepasst verhält. Ich will nicht von stromlinienförmig reden. Nehmen wir den Begriff: „angepasst“. Ich habe mich nie, glaube ich von mir sagen zu können, angepasst verhalten. Ich bin angeeckt, klar. Ich habe denn auch einen Teil meiner Karriere opfern müssen, weil ich nicht eingeknickt bin. Aber letzten Endes bin ich ganz gut durch die Fahrwasser gekommen, habe auch einiges durchsetzen können. Zum Beispiel das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ in Berlin. Das war schwierig, die Angriffe waren heftig, die Schläge unter die Gürtellinie landeten knallhart, aber letzten Endes habe ich das Denkmal bekommen. Ich sage das so, „mein Denkmal“, das war eines meiner wichtigen Lebensziele, ich habe, als Galionsfigur, auch die Ohrfeigen einstecken müssen. Aber so etwas ist natürlich nie das Werk einer einzelnen Person, hinter und neben mir waren einige, ohne die ich das nie hätte durchsetzen können. Zum Beispiel mein verstorbener Mann Jakob Schulze-Rohr, zum Beispiel der Historiker Eberhard Jäckel. Und 8 – 10 andere wunderbare Menschen.
Es war und ist und bleibt das Werk einer tapferen, aber relativ kleinen Bürgerinitiative, die sich der Staat, den wir gerufen hatten, zu Eigen gemacht hat. Aber es darf nicht vergessen werden: das Denkmal war die Idee einer Bürger-Initiative, nicht „des Staates“.  Und wir haben diese Idee über viele viele Jahre durchgesetzt.  Wir arbeiten ja weiterhin dafür. Und das war und ist auch gut so.
Courage? Eher nein. Ich wurde zwar vom „darling der Nation“ für viele zur „Buhfrau der Nation“, und es ist das erstere viel angenehmer als das zweite, aber courage brauchte ich eigentlich nicht. Stehvermögen. Standfestigkeit. Zähigkeit, ja. Aber nicht direkt courage. Auch Beate Klarsfeld, die ja unter uns ist, die übrigens Mitglied ist in unserem Förderkreis „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“, brauchte für die Kiesinger-Ohrfeige eher keine courage. Ich dachte damals: Wunderbar Beate, das hast Du wunderbar gemacht, endlich mal eine, die uns aus der Seele gehandelt hat, es nicht hinzunehmen, dass einer mit so einer Vergangenheit deutscher Bundeskanzler werden durfte…Aber courage? Was konnte ihr passieren? Missbilligung der ewig Gestrigen,  deren Verachtung. Na und? Es hat ihr keinen Karriereknick verpasst, eher hat es wohl das Gegenteil bewirkt. Wer bis dahin nicht wusste, wer Beate Klarsfeld ist und wofür sie steht, der wusste es nun. Und der lernte einiges über ihren Kampf, den sie gemeinsam mit ihrem Mann Serge Klarsfeld kämpfte, ein Kampf gegen alte Nazis und deren ungesühnte Verbrechen. Und da gab’s eine Menge zu lernen, für viele hierzulande.
Was man von uns lernen kann, ist vielleicht: Standfestigkeit, Zähigkeit, Durchsetzungswille, Kraft. Da finde ich mich mit Beate in bester Zweisamkeit.
Also: Wofür braucht man heutzutage denn noch courage, wenn man nicht immer die Beispiele derer zitiert, die Sie heute auszeichnen: also kämpferisches Engagement gegen die Brutalen der rechten bis rechtsextremen Szene, gegen die verrückten Alt- und Neonazis.
Da fallen mir die 4 „Abweichler“ aus Hessen ein. 4 Aufrechte, die ihren aufrechten Gang mit einem Karriere- Ende, vorläufig jedenfalls, bezahlt haben. Dabei haben sie,
Dagmar Metzger, Silke Tesch, Carmen Everts und Jürgen Walter, ich zitiere jetzt aus einem gemeinsamen Offenen Brief von Vera Lengsfeld, den ich als SPD-Mitglied mit unterschrieben habe:
„die Ehre der hessischen SPD gerettet. Sie haben einen Wortbruch und den damit verbundenen Betrug an den Wählern verhindert. Sie haben ihr verfassungsgemäßes Recht auf Gewissensentscheidung in Anspruch genommen. Sie haben das Grundgesetz über eine zweifelhafte Parteidisziplin gestellt …Damit haben sie einen entscheidenden Beitrag zur Verbesserung der Politischen Kultur unseres Landes geleistet… Abweichler, Wortbrecher, Verräter, Schweine, das waren die Bezeichnungen, mit denen sie von Parteigenossen belegt wurden….Die Aufforderung, ihr Mandat niederzulegen, obwohl sie zum Teil direkt gewählt worden waren…die Stigmatisierung als Aussätzige…kam einem Berufsverbot gleich… Die
ausdrückliche Verankerung der Gewissensfreiheit der Abgeordneten im Grundgesetz
war eine der Lehren aus der Geschichte Deutschlands, deren dunkelste Kapitel von einer Parteienherrschaft geprägt waren, die keinen Widerspruch duldete“.
Anstatt sie zu belohnen, anstatt ihnen zu danken, ihnen den „geraden Rücken“, den „aufrechten Gang“ zu stärken, sind sie gemobbt und mit Ausschluss bestraft worden.
Eine Schande für eine Partei, die einst Zivilcourage auf ihre Fahnen schrieb…
Das sage ich, die ich seit 1968 dieser Partei angehöre, in die ich eingetreten bin
wegen Willy Brandts Ostpolitik, wegen „mehr Demokratie wagen“.
Der Absturz der SPD in Hessen ist die gerechte und richtige Abstrafung der Wähler
für die Schäbigkeit des Verhaltens dieser Partei. Die SPD hat ihre Quittung bekommen für Wählerbetrug. Die FDP steht nunmehr glänzend da, ist nicht mehr „Umfallerpartei“.  DIE LINKE hat nicht profitiert vom Debakel der SPD. Ich hätte es begrüßt, und ich bin nicht allein mit dieser Meinung, wenn sich DIE LINKE in Hessen, und nicht nur da,  anders als so stumm-abwartend, so tumb verhalten hätte.
Wo blieb der große Aufschrei bei diesem skandalösen Abstrafen durch die SPD?
Wo blieb die Solidarität von Demokratinnen und Demokraten?
Nichts aus der Geschichte gelernt? Dabei hätten doch gerade diese beiden Parteien viel Grund, ihre Lehren aus unserer Geschichte zu ziehen. Es waren doch die Kommunisten, die von den Nazis blutig geschlagen, zuerst in die KZ’s verschleppt wurden. Erst die Kommunisten, dann die Gewerkschafter, dann aber gleich die Sozis. In Sachsenhausen, in Buchenwald, in Dachau haben sie sich doch alle wieder getroffen. Und gemeinsam gelitten.
Köpenicker Blutsonntag, 1933. Schon vergessen?

Meine Bürger-Initiative, Vorläuferin des Förderkreises für das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“,  hat vor dem Reichstag ein Denkmal für die 96 von den Nazis ermordeten Reichstags-Abgeordneten errichtet. Die meisten von ihnen waren Kommunisten, auch Gewerkschafter, dann folgten die Sozialdemokraten. Dem Zentrum gehörten drei Abgeordnete an. Tafeln mit ihren Lebens- bzw. Todesdaten, ein kleines, aber eindrückliches Denkmal vor dem Reichstag, erinnert an sie. Wir haben sie, die 96 Opfer, in einem Steingrab zusammengeführt.
Aus der Geschichte lernen – das muss sich auch DIE LINKE in ihr Stammbuch schreiben. Dieter Graumann vom Zentralrat der Juden hat die Tatsache, dass 11 Abgeordnete der LINKEN der Abstimmung im Bundestag über eine Resolution gegen den Antisemitismus ferngeblieben sind, „eine Schande für die LINKE“ genannt. „Politisch unanständig“ fügte er hinzu, „es ist eine heftige und deftige Blamage für die Linkspartei, dass ein Teil ihrer Fraktion sich weigert, das Existenzsrecht Israels anzuerkennen und eine elementare Grundsolidarität mit Israel zu zeigen“. Und Udo Wolf, Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses , Sprecher des „Forums demokratischer Sozialismus“ der Partei, konstatierte, die 11 hätten der eigenen Fraktion und der Partei insgesamt geschadet. Petra Pau, Vizepräsidentin im Bundestag, zog einen größeren Bogen: „Die Nazis waren so stark, weil die Demokraten in zentralen Fragen zerstritten und deshalb zu schwach waren“. Eben. Zu den Zukunftsaussichten für die LINKE prognostiziert Graumann: „Mit ihrer schwammigen, unwürdigen Haltung wird die LINKE im Bund nicht bündnisfähig und nicht bündniswürdig sein“. DIE LINKE muss die Einsicht und die Courage haben,
alte Zöpfe endlich abzuschneiden, Überholtes endlich über Bord zu werfen!
Da wäre also eine Menge aufzuarbeiten und nachzuholen. Aber wie groß ist die Bereitschaft dazu? Wenn ich Revue passieren lasse, was sich bei der pompösen
Beerdigung des Ex-Geheimdienstchefs der DDR, Markus Wolf, das war im November 2006, vor hunderten der alten Kader in Berlin abgespielt hat, kommen mir starke Zweifel. Der oberste Spion der deutschen Teilrepublik, dieser wegen Freiheitsberaubung, Nötigung und Körperverletzung 1997 rechtskräftig zu zwei Jahren Gefängnis (auf Bewährung) verurteilte Geheimdienstchef, habe sich, so war bei der Beerdigung zu hören, „im Leben durch Wärme, Weitsicht, vor allem durch Treue ausgezeichnet“. Und Manfred Wekwerth, letzter Präsident der DDR-„Akademie der Künste“, schwadronierte: „Markus Wolf war klug, tolerant und menschlich“,
„sein Charme hatte immer den Zauber der Wahrheit“.
Und Petra Pau, die eben so richtig Zitierte, vergriff sich schließlich in ihrer Würdigung mit der Schilderung: Wolf sei „immer aufrecht gegangen, bis ins Grab“. 
Über die Schandtaten der STASI, dessen stellvertretender Minister der Verstorbene drei Jahrzehnte lang war, wurde bei seiner Grablegung kein einziges Wort verloren.

Was die Schandtaten der STASI angeht, kann ich bei Gedächtnislücken nun ein bisschen nachhelfen. Ich habe nämlich, gemeinsam mit einer Freundin, ein Theaterstück für das Potsdamer Hans-Otto-Theater mit 15 ehemaligen STASI-Häftlingen erarbeitet. 15 Leute, die zwischen 1 und 7 Jahren Haft in Gefängnissen und Zuchthäusern der DDR absitzen mussten, auch in Hoheneck, auch in Bautzen. 15 ehemalige Häftlinge erzählen auf der Bühne ihre Geschichten. Wir hatten keine Schauspieler engagiert. Denn niemand kann so authentisch über das ihnen zugefügte Unrecht berichten wie die Betroffenen selbst. Die Vorstellungen sind seit Oktober letzten Jahren ausverkauft. Und das nicht nur in Potsdam, so auch in Magdeburg, da sassen die Besucher auf den Treppen. Wie spielen auch in Frankfurt/Oder, in Brandenburg. Das Interesse des Publikums ist enorm. Sie können übrigens, wenn es Sie interessiert, für eine der nächsten Vorstellungen Karten bestellen. Die Aufführungen sind öffentlich.
Um Ihnen zu veranschaulichen, zu welch aberwitzigen Urteilen „Im Namen des Volkes“ z.B. der 1. Strafsenat des Militärobergerichtes Berlin im Oktober 1982 in einem Falle kam, lese ich kurz aus dem Urteil vor:
Im Namen des Volkes
Der Angeklagte Raufeisen, Thomas wird wegen vollendeter und versuchter landesverräterischer Agententätigkeit und versuchten und vorbereiteten ungesetzlichen Grenzübertritt in schwerem Fall zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt.
... Der Vater des Beschuldigten versuchte dessen Erziehung so zu gestalten, dass dieser den in der DDR bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen aufgeschlossen gegenübersteht. Diese Bemühungen blieben ohne Erfolg. Der Beschuldigte lehnte die sozialistischen Verhältnisse in der DDR ab und war bereits unmittelbar nach seiner Übersiedlung in die DDR nicht bereit hier zu leben. Die von seinem Vater geleistete Tätigkeit als Kundschafter der DDR lehnte er strikt ab.
Da die Beschuldigten (gemeint sind Vater, Mutter und die beiden Söhne) trotz vielfältiger Aktivitäten bis zum Sommer 1981 keine Möglichkeit gefunden hatten, mit Hilfe von imperialistischen Geheimdiensten, kriminellen Banden, Institutionen, Einrichtungen oder Einzelpersonen die DDR illegal zu verlassen, entschlossen sie sich, im September 1981 eine Reise nach Ungarn anzutreten, um von dort aus durch einen Grenzdurchbruch das kapitalistische Ausland zu erreichen….
…Die gegebenen Möglichkeiten hat der Angeklagte nicht genutzt, sondern intensiv und zielgerichtet Verbrechen von erheblicher Gesellschaftsgefährlichkeit begangen.
Verbrechen? Die Verbrechen, für die er 3 Jahre hinter Gittern verbringen musste, bestanden in dem Wunsch, in seine Heimatstadt Hannover zurückkehren und in Freiheit leben zu können. Sein Bruder durfte in die BRD ausreisen, die Mutter verbüßte 7 Jahre Haft, der Vater kam in der Haft zu Tode, „aus ungeklärten Umständen“.
Einzelhaft, Isolationshaft. Kein Buch, keine Zeitung. Kein Mensch, mit dem man sprechen kann. Und das über Jahre. Einer der ehemaligen Häftlinge erzählte, dass er sich förmlich nach seinem Vernehmer gesehnt hätte, weil das ein Mensch war, mit dem er wenigstens sprechen konnte.
Noch einmal Manfred Wekwert:
„Markus Wolf war klug, tolerant, menschlich.
Sein Charme hatte immer den Zauber der Wahrheit“.
Übrigens habe ich gebeten, meine Aufwandsentschädigung in Höhe von 1.000,—
EURO einem der STASI-Opfer zukommen zu lassen. Danke für Ihr Einverständnis ..
Frage: Was ist los mit uns Deutschen? Warum kriegen wir es nicht fertig, mit unserer
Geschichte nach 1945, diesem Zivilisationsbruch, und dann wieder, nach 1989, richtiger umzugehen? Sind die Brüche zu groß?
Ich muss zurückgehen in die Nachkriegszeit der Bundesrepublik, die der DDR, die des vereinigten Deutschland, die Verhaltensweisen wiederholen sich, leider.
Der Holocaust hatte schätzungsweise 150.000 Täter. Organisatoren und Vollstrecker. Auf bundesrepublikanischen Boden sind von deutschen Staatsanwaltschaften gegen 88.587 Beschuldigte Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. 88.587: eine imponierende Zahl. Nur: Ohne Strafe blieben 80.000.  Sie sind eben einfach straffrei ausgegangen. Einstellung des Verfahrens oder Freispruch. Nur 6 ½ tausend sind rechtskräftig verurteilt worden: 12 zum Tode, 158 zu lebenslanger Freiheitsstrafe. Die meisten, 6.180 zu Freiheitsstrafen im Schnitt zwischen 3 und 5 Jahren, auch für tausendfachen Mord. Wobei die Strafen in der Regel nicht einmal abgesessen wurden. Wobei den Tätern strafmildernde Umstände wie keinem anderen Kriminellen in unserer Gesellschaft gut gebracht wurden: „wird nicht wieder rückfällig“, „gute Führung“, Alter, Gesundheitszustand und und und…
In der ehemaligen DDR sind 13.000 Täter wegen „faschistischer Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verurteilt worden. Darin sind Abwesenheitsurteile enthalten. Dennoch: es sind fast doppelt so viele Verurteilungen wie in der früheren Bundesrepublik. Wobei sich viele Belastete rechtzeitig dorthin abgesetzt hatten, sie wussten schon, wo es gemütlicher für sie zuging.
Alles in allem sind die Verbrechen der Nazis, gemessen an Dimension und Grausamkeit, durch die deutsche Nachkriegsjustiz straffrei geblieben. Der Anspruch der Nürnberger Prozesse, die Ehre und Würde der Verletzten wiederherzustellen und das verletzte Recht wieder einzusetzen, ist nicht erfüllt worden. Der Philosoph Karl Jaspers prophezeite damals düster:  „dass die Menschheit sicher zugrunde gehen würde, wenn Staaten solche Verbrechen ausführen dürften“.
Eben nicht. Jaspers irrte. Die Menschheit ist nicht zu Grunde gegangen. Ein kurzer Aufschrei, Schwüre: „Nie wieder“...“Keine Gedichte mehr nach Auschwitz“, und dann ging alles weiter in der Tagesordnung. Mit und ohne Gedichten.
Schlimmer noch: Aus dem Buch von Hubertus Knabe: „Morde straffrei – Deutsche Täter vor deutschen Gerichten“, lerne ich, dass sich die Geschichte 50 Jahr später wiederholt. Wieder bleiben Tat und Täter straffrei, wieder kehren sie unbehelligt in die Gesellschaft zurück, wieder beziehen sie hohe Renten und Pensionen und verspotten zynisch ihre Opfer, STASI-Opfer, deren Altersversorgung mit der ihren nicht vergleichbar ist, die wegen ein paar EURO Entschädigung jahrelang betteln, ihre Notlage beweisen müssen.
Nicht, dass die Verbrechen der Nazis, ihrer Sadisten, Henker, KZ-Bestien und Schreibtischtäter gleichzusetzen wären mit den Verbrechen der DDR-Führungsclique, ihrer Funktionäre und Stasi-Offiziere und den 600.000 IM.
Aber auch sie haben getötet, gequält, gefoltert, Menschenrechte mit Füßen getreten. Ihre Verbrechen lauten: Tötung und schwerste körperliche Verletzung, Mordversuche, Entführungen, Gefangenenmisshandlung, Deportationen in sowjetische Arbeitslager,-  wo viele an Hunger, Kälte und mangelnder medizinischer Versorgung elend zu Grunde gingen-, Enteignungen, Verletzung des Briefgeheimnisses, heimliches Abhören von Telefonen, Diebstahl von Geld und Wertgegenständen aus privater Post, Erpressung Ausreisewilliger, und und und-
die Verbrechensliste ließe sich endlos fortschreiben. Aber auch diese Verbrechen sind alles in allem straffrei geblieben. Hubertus Knabes Bilanz: Von 62.000 Ermittlungsverfahren gegen rund 100.000 Personen kam bis Mitte 1998 nur gut 1 (!) Prozent zur Anklage: 58.000 Verfahren hatten die Staatsanwaltschaften wegen allzu großer Aussichtslosigkeit von sich aus eingestellt. Insgesamt gab es schließlich 670 Anklagen gegen 1042 Personen. Aber ein großer Teil dieser Beschuldigten blieb unbehelligt: Freisprüche, Einstellung des Verfahrens, teils aus Mangel an Beweisen, teils aus Milde gegenüber den Tätern. Mehr als 99 Prozent aller ursprünglich Beschuldigten kamen ohne Strafe davon. Es gab 316 Verurteilte. Die meisten, 190, erhielten Bewährungsstrafen, 105 kamen mit Geldstrafen, 9 mit einer Verwarnung oder einem Tadel davon. Nur 19 mussten wirklich ins Gefängnis.
Ein gigantisches Versagen von Politik und so genannter Rechtsprechung. Wie war doch noch gleich die Vorhersage von Karl Jaspers: Die Menschheit würde sicher zu Grunde gehen, wenn Staaten solche Verbrechen ausführen dürften ...Wer und was hatte den Tätern wieder in die Hände gearbeitet?
Es wiederholte sich das Trauerspiel, das nach 1945 so erfolgreich für die Täter gespielt worden war. Die Alliierten hatten für die Nürnberger Prozesse, weil das Verbrechen so unerhört und so neuartig in der Geschichte war, das Kontrollratsgesetz Nr. 10, die Kategorie „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ geschaffen. Damit konnte Tod, Freiheitsentzug, Geldbuße, Vermögenseinziehung und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verhängt werden. Aber die Bundesrepublik hatte nichts Eiligeres zu tun, als dieses Gesetz so schnell es ging, also sofort nach Erlangung der Gerichtsbarkeit, wieder abzuschaffen und an seine Stelle den schlichten Mordparagraphen 211/212 StGB einzusetzen, mit dem ein einfacher, gewöhnlicher, glatter Mord zu ahnden war.  Was ja total misslang, wie das Ergebnis belegt. Aus der Geschichte gelernt?
Es hätte auch 50 Jahre später für die DDR-Taten eine verlässliche Ahndung von Menschenrechtsverletzungen in der DDR geben müssen. Gab es aber nicht.
Knabe: „Wenn das Strafgesetzbuch entsprechend geändert und das sogenannte Rückwirkungsverbot präzisiert worden wäre, hätte man die unbefriedigende Rechtslage durchaus noch reparieren können“. Das so genannte Rückwirkungsverbot, auch in den Einigungsvertrag aufgenommen,  hatte schon einmal den NS-Tätern beste Dienste geleistet. Es besagte nämlich, damals wie heute:„eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde“. Eine für NS- und DDR-Verbrecher äußerst hilfreiche Rechtsauffassung. So argumentierten denn auch viele prompt: „Was damals rechtens war, kann doch heute nicht unrecht sein“.
Damit versuchte sich seinerzeit Filbinger zu rechtfertigen, damit rechtfertigten auch der ehemalige DDR-Verteidigungsminister Keßler und andere Mauerschützen die Tötung von Flüchtlingen an der Grenze: „Der Gebrauch der Schusswaffe gegenüber Grenzverletzern sei in der DDR nicht verboten, sondern gesetzlich gedeckt gewesen“.
Der Strafrechtler Jürgen Baumann sagte dazu, „dass Mord befehlende Gesetze naturrechtswidrig und nichtig sind, dass sie innerstaatlich rechtswidrig und völkerrechtswidrig waren“. Und Karl Jaspers folgert radikal schlüssig, dass „das Rückwirkungsverbot den Verbrecherstaat letztlich als Rechtsordnung akzeptiert“.
Unsere Politiker hätten Baumann, Jaspers und auch Hannah Arendt studieren sollen.
Der Theologe Richard Schröder erklärte dagegen im Oktober 2006: ...“Wir gehen mit euch anders um, als ihr mit uns umgehen wolltet“. Und Wolfgang Thierse setzte sich dafür ein, die Überprüfungen weitgehend zu beenden: „Wir wollen doch nicht dauerhaft den Rechtsstaat außer Kraft setzen“. Rechtschaffend gemeint. Doch Hubertus Knabe setzt dem folgenschwer entgegen: „Der Bundestag und nicht die Justiz trägt deshalb die Hauptverantwortung dafür, dass zum zweiten Mal in der deutschen Geschichte die Verbrechen eines totalitären Staates weitgehend ungesühnt blieben.“
Die Fehler nach 1945 rächten und wiederholten sich nach 1989. Die Folgen für unser Rechtsbewusstsein sind schwerwiegend.
Wir haben mit dieser Bürde fertig zu werden. Wie schwer das ist, sollten einige von mir aufgezeigten Beispiele aufzeigen.
Ich bin dennoch sicher, dass wir das schaffen. Gemeinsam. Auch wenn der Fortschritt wahrlich eine Schnecke ist.
Ich danke Ihnen für das Zuhören.
Und freue mich jetzt auf Positives, freue mich, über couragiertes Handeln in Mecklenburg-Vorpommern zu hören

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