Vera Lengsfeld / 17.01.2010 / 13:34 / 0 / Seite ausdrucken

Doppeltagebuch 1990 /2010 - 16 . Januar

In der Nacht nach der Erstürmung der Stasihauptzentrale in der Berliner Normannenstraße bildet sich ein Bürgerkomitee, das die Auflösung der Staatssicherheit überwachen will. Ministerpräsident Modrow muss sich dem öffentlichen Druck beugen und das Komitee anerkennen. Er ist gezwungen, dem Regierungsbeauftragten für die Auflösung des MfS , Generaloberst Horst Peter, ein dreiköpfiges Gremium zuordnen: Werner Fischer von der Initiative für Frieden und Menschenrechte, Georg Böhm von der Bauernpartei, der die Regierungsseite verstärken soll und Oberkonsistorialrat Ulrich Schröter, in Vertretung von Bischof Forck. Die Benennung von Böhm zeigt, dass Modrow immer noch nicht aufgehört hat, zu tricksen, in der Hoffnung, so viel Terrain wie möglich zu sichern, um die Macht bei der ersten Gelegenheit zurück zu erobern. Unterdessen wird der Ruf nach Herausgabe der Stasiakten immer lauter. Die Bürgerkomitees in den Stasizentralen verweigern eine unkontrollierte Öffnung. Sie wollen eine rechtliche Regelung abwarten.
In Bulgarien verhandelt die Opposition mit der Regierung über die Abhaltung freier Wahlen.

In Berlin wurde des Jahrestages der Erstürmung der Stasizentrale gedacht. Am Freitag Abend mit einem Festakt im Maxim-Gorki-Theater, bei dem das preisgekrönte Stück „Staatssicherheiten“ zur Aufführung kam, das auch das Berliner Publikum beeindruckte. Es gab doppelt so viele Anmeldungen, wie Sitzplätze vorhanden waren. Leider ist das Gorki-Theater nicht bereit, eine zweite Aufführung zu ermöglichen, weil das Stück „nicht in den Spielplan passt“. Die historische Wahrheit ist offenbar immer noch vielen unangenehm.
Am Sonnabend gab es ein Bürgerfest auf dem Gelände der Stasihauptzentrale. Leider empfanden sich die beiden Veranstalter die Stasigedenkstätte und die Stasiunterlagenbehörde als Konkurrenten, nicht als Partner. Glücklicherweise bekamen die Besucher das kaum mit und wechselten problemlos von einem Veranstaltungsort zum anderen. Es wurde viel geboten: Filme, Diskussionen, Ausstellungen. Es kamen Veteranen der Erstürmung, um ihre Erinnerungen aufzufrischen, aber auch ganz junge Leute, die sich ein Bild machen wollten. Der unbestrittene Höhepunkt war am Abend das Konzert von Jan Josef Liefers und seiner Truppe, die mit Rocktiteln aus der DDR und eingestreuten Politikerreden von damals auf eindrückliche und witzige Weise an das glücklicherweise verschwundene Land erinnerten, dem man keine Träne nachweinen muss. Und daran, dass sich die Menschen von den Verhältnissen nicht unterkriegen ließen. Es war schon etwas Besonderes, in der Kantine der Stasihauptzentrale Renft und Lift zu hören, die von den Genossen schikaniert wurden , deren Lieder aber noch frisch sind, während die Genossen längst das Feld räumen mussten. Allerdings fragten junge Leute immer wieder, was dass denn für ein Geruch sei, der in den Gemäuern herrsche, sie förmlich durchtränkt zu haben scheint. Das ist ein Phänomen. Die Stasi ist längst weg, der Geruch ist noch da, obwohl seit zwanzig Jahren nicht mehr mit Wofalor, so hieß das höllische Reinigungsmittel in der DDR, weil es in der Chemiefabrik Wolfen als „Konsumgut“ produziert werden musste, geputzt wird. Es ist, als schliche sich jeden Tag ein Stasimitarbeiter aufs Gelände, um eine Geruchskonserve zu öffnen. Wer sich überzeugen will, dem sei ein Besuch in der Stasigedenkstätte Normannenstraße empfohlen, wo man neben Mielkes Schreibtisch mit den vielen Telefonen auch sein Sofa für den Mittagsschlaf und sein Klo besichtigen kann.

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