Die Evangelische Kirche der DDR kritisiert umgehend die am Vortag verabschiedete Reiseordnung. Was noch vor einem halben Jahr als revolutionäres Zugeständnis begrüßt worden wäre, erscheint nun angesichts der praktizierten Reformpolitik in Polen und Ungarn als viel zu wenig. Die Kirche begnügt sich nicht mehr mit der ihr zugedachten Rolle als nichtmarxistisches Legitimationselement des SED-Staates. Sie will sich aktiv einmischen, nicht nur von den Oppositionsgruppen zum Handeln getrieben werden. Sie kritisiert von daher zusätzlich mit deutlichen Worten die mangelnde Bereitschaft des Honecker-Regimes, wirkliche Reformen zuzulassen. Mit dem Hinweis, dass was in Polen und Ungarn möglich ist, in der DDR nicht unmöglich sein kann, eröffnet sie die Phase der offenen Auseinandersetzung mit dem Staat. Damit versetzt sie dem Regime einen empfindlichen Schlag, von dem es sich nicht mehr erholt.
Offiziell reagiert die Regierung nicht auf die Kritik. Inoffiziell laufen die Telefondrähte heiß. Konsistorialpräsident Manfred Stolpe soll die aufmüpfigen Kirchenoberen zur Räson bringen. Er tut, was er kann, aber ohne nennenswerten Erfolg. Die Kritik wird nicht zurück genommen. In Westdeutschland ist man derweil mit Forderungen nach Umbau des Kabinetts von Bundeskanzler Kohl beschäftigt. Besonders laut wird Graf Lambsdorf von der FDP. Die Umfragewerte für die Regierungskoalition sind nicht gut.
Kanzler Kohl ist 14 Pfund leichter aus dem Osterurlaub zurückgekommen. Das ist allemal eine Spitzenmeldung wert. Die aufregenden Vorgänge in der DDR bleiben weiterhin fast unbeachtet. Da sind Meldungen vom Hungerstreik der RAF-Mitglieder schon interessanter.
Auch heute übt die RAF noch eine makabere Faszination aus. Eben ist auf Facebook ein RAF-Spiel aufgetaucht. Die Mitspieler sollen feststellen, welchem RAF-Mitglied sie am ehesten entsprechen. Bei der Beantwortung von sieben Fragen kann jeder seine Neigung zum Terrorismus austesten. Wer bereit ist, sofort auf Polizisten zu schießen, wenn er verfolgt wird, hat das Zeug zum Anführer. Der Aufschrei wird eventuell groß sein. Aber dieses Facebook-Spiel ist kein qualitativer Unterschied zur RAF-Romantik des „Baader-Meinhoff-Komplexes“ Solange die meinungsmachende Klasse unseres Landes nicht bereit ist, den Linksterrorismus konsequent zu ächten, wird es immer wieder RAF-Spielchen geben.