Vera Lengsfeld / 03.04.2009 / 12:57 / 0 / Seite ausdrucken

Doppeltagebuch 1989/2009_ Dritter April

Staats-, und Parteichef Honecker, der gleichzeitig der Vorsitzende des Nationalen Verteidigungsrates ist, schafft etwas ab, das es offiziell gar nicht geben durfte: den Schießbefehl. Er reagiert damit auf die anhaltenden Proteste gegen die Schießereien an der Grenze, denen zwei Monate zuvor der neunzehnjährige Chris Gueffroy zum Opfer gefallen war. Die nicht aufhörenden Fluchtversuche sorgten in den letzten Wochen immer wieder für Unruhe. Das Regime befürchtet einen massiven Imageschaden.
Der Schießbefehl war eine der schlimmsten Willkürmaßnahmen des SED-Staates. Entsprechend hartnäckig wird seine Existenz heute geleugnet. Ein schriftliches Dokument fehlt. Immerhin wurde in der Verfassung der DDR 1982 Bestimmungen verankert, nach denen Schusswaffengebrauch nur bei Notwehr und nach klaren Warnungen legitimiert war.
Warum waren diese Festlegungen nötig, wenn es keinen Schießbefehl gegeben haben soll? Tatsache ist, dass sich die Grenzsoldaten im Falle Gueffroy nicht an die verfassungsmäßigen Vorgaben gehalten haben. Kein Wunder, denn die ideologische Verhetzung der Grenzsoldaten war Realität. Flüchtlinge seien „Landesverräter“ und „Klassenfeinde“, wurde den jungen Soldaten auf Schulungen eingehämmert. Der Befehl eines Grenzkommandanten aus dem Jahr 1981 legt davon Zeugnis ab: „Anzuerziehen ist der unversöhnliche Haß auf den Imperialismus, seine Söldner und alle antisozialistischen Elemente. Die Haltung zum Grenzverletzer als Feind des Sozialismus ist konsequent zu entwickeln.“ Wem das noch nicht reicht, den überzeugt sicher ein Stasi Dokument von 1983, das noch deutlicher wurde: „Es ist notwendig,...dass Sie ...die Schusswaffe konsequent anwenden, um den Verräter zu stellen bzw. zu liquidieren“ Und weiter: „Zögern Sie nicht mit der Anwendung der Schußwaffe, auch dann nicht, wenn die Grenzdurchbrüche mit Frauen und Kindern erfolgen, was sich die Verräter schon oft zu nutze gemacht haben.“Honeckers Aussetzung des Schießbefehls war ein rein taktischer Schachzug, keine Einsicht in das Unrecht, das an der Grenze begangen wurde.
Kürzlich habe ich auf einem Podium einen ehemaligen Kommandeur der DDR-Grenztruppen erlebt, der sein Statement mit dem Satz einleitete: „Wer in der DDR die Grenze überwinden wollte, war entweder ein Selbstmörder, blind, oder erkonnte nicht lesen. Schließlich war das Gebiet deutlich als Sperrzone gekennzeichnet.“ Der DDR-Bürger hatte aus der Sicht der Machthaber brav in seinem Staat zu bleiben. Stasichef Mielke sah nach der Aufhebung des Schießbefehls zwar ein, dass ein erheblicher politischer Schaden durch die Schüsse entstand, aber die Lösung sah er in einer besseren Trefferquote. „Wenn man schon schießt, muss man es so machen, dass der Betreffende nicht wegkommt“

Der G20-Gipfel in London ist vorüber und außer Spesen und Absichtserklärungen scheint nichts gewesen zu sein . Oder doch ? Die Politik tut so, als wäre die Krise ohne ihr Zutun entstanden. Es fehlt jede Spur von Selbstkritik oder auch nur Selbstreflexion. Statt dessen wird an neuen Feindbildern gearbeitet, die „unkooperative Jurisdiktionen, einschließlich Steueroasen“ heißen. Die Zeit des Bankgeheimnisses sei vorbei, wird verkündet. Muss man wirklich Bürgerrechtler sein, um den totalitären Anspruch, der hinter solchen Sätzen lauert, zu erkennen? Stolz wird das „größte fiskalische Stimulierungs-, und Stützungsprogramm der modernen Geschichte“ verkündet. Wer wird die Verantwortung übernehmen, wenn dieses „Maßnahmepaket“ die Krise nicht behebt, sondern verschlimmert?

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