Vera Lengsfeld / 08.11.2009 / 15:12 / 0 / Seite ausdrucken

Doppeltagebuch 1989/2009- 8. November

Bundeskanzler Helmut Kohl hält im Bundestag eine einstündige Rede „zur Lage der Nation im geteilten Deutschland“ Er fordert darin wahrhaft Revolutionäres: „Wir wollen nicht unhaltbare Zustände stabilisieren. Aber wir sind zur umfassenden Hilfe bereit, wenn eine grundlegende Reform der politischen Verhältnisse in der DDR verbindlich festgelegt wird. Die SED muss auf ihr Machtmonopol verzichten und muss freie Wahlen und damit die freie Zulassung von Parteien verbindlich zusichern.“  Kohl geht noch weiter. Er fordert den Umbau des Wirtschaftssystems der DDR als Voraussetzung für finanzielle Hilfen, denn es sei klar, „dass ohne eine grundlegende Reform des gesamten Wirtschaftssystems, den Abbau bürokratischer Planwirtschaft und den Aufbau einer marktwirtschaftlichen Ordnung jede wirtschaftliche Hilfe letztlich vergeblich bleiben wird.“ Er erklärt es zur nationalen Aufgabe,  „einen grundlegenden politischen und wirtschaftlichen Wandel in der DDR zu fördern.“ Damit ist der Politikwechsel vollzogen. Nicht mehr die SED, sondern die bisher ignorierte Opposition kann mit Unterstützung der Bundesregierung rechnen. Noch Jahre danach wird Kohl dieser „Verrat“ von Politikern der SED-PDS vorgeworfen. Kohl hätte die DDR in den Zusammenbruch getrieben, weil er nicht bereit gewesen sei, den für das Überleben nötigen Kredit zur Verfügung zu stellen, betonte die wirtschaftspolitische Sprecherin der PDS, Christa Luft, in jeder ihrer Reden im Bundestag.
Der revolutionäre Impetus der Kohl-Rede ist deshalb nicht ins kollektive Gedächtnis der Nation eingegangen, weil am nächsten Tag ein überwältigendes revolutionäres Ereignis alles überschattete.
In Ostberlin tagt das Zentralkomitee der SED. Von revolutionären Veränderungen ist nichts zu spüren. Es herrscht der alte SED-Geist. Mit taktischen Manövern versucht Egon Krenz, Zugeständnisse zu machen und gleichzeitig die Machtfäden in der Hand zu behalten. Was der Klassenfeind seit zwei Tagen weiß, wie Planungschef Schürer die wirtschaftliche Lage der DDR einschätzt und dass er vorschlägt, für bundesdeutsches Geld die Mauer zur Disposition zu stellen, erfahren die Mitglieder des „höchsten Organs“ der SED nicht. Dafür sind sie aber informiert, was die Demonstranten auf der Straße fordern: “Vorwärts zu neuen Rücktritten!“ Deswegen rebellieren sie erstmals in der Geschichte der ZK- Tagungen gegen die zu zögerliche personelle Erneuerung, die ihnen von Egon Krenz vorgeschlagen wird. Fünf neue Mitglieder soll das Politbüro nur haben, elf alte sollen bleiben. Schon gegen den ersten Personalvorschlag gibt es entschiedenen Widerspruch: der Hallenser Parteichef Böhme, dessen Rücktritt am Vortag von 70 000 Hallenser Bürgern gefordert worden war, wird für unwählbar erklärt: Der Dresdener Bezirksparteichef Modrow: „Wir treffen keine Kaderentscheidung unabhängig von dem, was draußen vor sich geht.“ Modrow erkennt damit an, dass eine „Doppelherrschaft“ existiert. In Wahrheit hat die Straße die Entscheidungen bereits übernommen. Immerhin werden weitere drei von Krenz vorgeschlagene Kandidaten nicht nominiert. Die wichtigste Entscheidung des ZK war die Wahl von Modrow zum neuen Politbüromitglied und seine Nominierung zum Ministerpräsidenten. Wie sich später herausstellen sollte, hatte das ZK damit die wichtigste Weiche zum Überleben der Partei gestellt. Krenz erweist sich in der weiteren Sitzung als Konzeptions-, und Ideenlos und damit als überflüssig.

Abseite von den großen Schauplätzen kommt es zu einem Kuriosum, das die weitere Entwicklung der DDR vorwegzunehmen scheint. In Rüterberg, einem von drei Seiten von der Staatsgrenze umzingelten Ort, der von den Bewohnern nur durch ein Stahltor verlassen werden kann, scheitert die „Dialogpolitik“ mit der SED. Die Dorfbewohner schreiten daraufhin zur Tat und gründen einstimmig die freie „Dorfrepublik Rüterberg“ und geben sich eine Verfassung nach Vorbild der schweizerischen Urkantone. Auch diese revolutionäre Tat bleibt unbekannt, weil am nächsten Tag der Mauerfall alles in den Schatten stellt.

Nach dem Beschluss von GM ihre europäische Perle Opel nicht zu verkaufen, sondern selbst zu sanieren, leckt die deutsche Politik immer noch ihre Wunden. Während der amerikanische Präsident Obama klug darauf verzichtet hat, trotz Staatshilfen sich in die Firmenpolitik von GM einzumischen, glauben deutsche Bundes-, und Landespolitiker , sie müssten nun das Sagen in wirtschaftlichen Fragen haben, auch wenn immer wieder deutlich wird, dass sie nichts von wirtschaftlichen Abläufen verstehen.
Heute wird bekannt, dass der Ex-Conti-Chef Wennemeier seinen Posten als Vertreter des Bundes in der Opel- Treuhand niedergelegt hat, weil „wirtschaftlicher Sachverstand“ nicht mehr gefragt sei. Die Politik habe das Gremium übernommen und nehme massiv Einfluss. Offenbar zum Schaden für die Wirtschaft, auch wenn Wennemeier das nicht so deutlich sagt. Wennemeier spricht sich gegen Steuergelder für Opel aus und artikuliert damit die Mehrheitsmeinung der Wähler. Das wird von der Politik ignoriert, die glaubt, sich mit dem Verpulvern von Steuergeldern „Gestaltungsmöglichkeiten“ erworben zu haben. Die Politik zeigt damit, wie sehr sich auch demokratisch gewählte Politiker von der Realität entfernen können. Die Botschaft der Bundestagswahl scheint nicht angekommen zu sein.

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