Vera Lengsfeld / 05.09.2009 / 18:24 / 0 / Seite ausdrucken

Doppeltagebuch 1989/2009- 5. September

Etwas nie dagewesenes geschieht: anlässlich der bevorstehenden Öffnung der Grenze zwischen Ungarn und Österreich kommt es zu einer kontroversen Debatte im Politbüro.
Im Ergebnis zeigt sich aber, dass die Politbürokraten immer noch nichts verstanden haben. Es wird beschlossen, die Ausreisewilligen in Ungarn mittels Flugblättern und Gesprächen zur Rückkehr in die DDR zu bewegen. Kurz darauf wurden „Mitteilungen“ der DDR-Botschaft vor allen Flüchtlingslagern verteilt, die allen Heimkehrwilligen „Straffreiheit“ zusichern. Wörtlich. „Bürger können bei Rückkehr in die DDR ihre Anliegen in den Heimatorten vortragen. Diese vorsprachen werden als Antragstellung bzw. Wiederholung der Antragstellung auf ständige Ausreise gemäß der Verordnung über Reisen von Bürgern der DDR nach dem Ausland vom 30.8.1988 gewertet.“
Die Leute hatten es aber satt, Anträge zu stellen und sie hatten nicht vor, die nahe Freiheit gegen „Straffreiheit“ einzutauschen. Als ein Vertreter der DDR-Botschaft versuchte, auf dem Gelände des Flüchtlingslagers Zugliget in Budapest eine „Beratungsstelle“ einzurichten, sah er sich bald in seinem zum Büro umfunktionierten Campingwagen von einem halben Hundert jungen DDR-Bürgern eingekesselt. Der Botschaftssekretär saß dann stundenlang allein in seinem Wagen, weil niemand sich beraten lassen wollte. Er musste sich dafür anhören, was die Flüchtlinge über den SED-Staat und seine Methoden dachten.
Ab Anfang September reichten die Flüchtlingslager in der ungarischen Hauptstadt nicht mehr aus. Deshalb ging die Regierung dazu über, Auffanglager in anderen Teilen des Landes einzurichten. Die ungarische Volksarmee bekam den Auftrag, am Plattensee die Flüchtlinge in einem für sie geöffneten Pionierlager mit Nahrung zu versorgen. Das war mal eine andere Form der bisher bekannten „brüderlichen Hilfe“. Außerdem wurde zwischen Budapest und dem Plattensee ein Busverkehr eingerichtet, um schnell Menschen aus den überfüllten Lagern der Stadt verlegen zu können.
Weil die DDR-Regierung handlungsunfähig war, ergriffen die Beamten des Bonner Außenministeriums die initiative. Sie ließen über insgesamt 14 Büros provisorische Bundespässe verteilen, die aber keinen Einreisestempel für Ungarn auswiesen. Sie konnten das tun, weil glücklicherweise das einheitliche deutsche Staatsbürgerrecht trotz mehrfacher Vorstöße nicht beseitigt worden war.
Am Ende hat niemand diese Pässe gebraucht.

Noch 22 Tage bis zur Bundestagswahl. Einen solchen „Wahlkampf“ habe ich noch nicht erlebt. Wir sind mitten in der Krise, aber das ist kein Thema. Wofür die einzelnen Parteien stehen, ist kaum zu erkennen. Es soll irgendwie „sozialer“, „gerechter“, „ökologischer“ und „friedlicher“ in Deutschland werden. Umverteilung im noch größeren Umfang wird versprochen, obwohl das nicht mehr möglich ist, ohne unsere wirtschaftlichen Grundlagen ernsthaft zu gefährden. Die klarste Forderung haben die Piraten: Transparenter Staat statt gläserner Bürger.
Viel Vorgestriges: In Berlin gab es heute eine große Kundgebung gegen Atomkraft. Zehntausende bekräftigen das beschlossene Ende der Kernenergie. Die besten Reaktoren der Welt sollen womöglich noch schneller als beschlossen abgeschaltet werden. Umweltminister Gabriel lässt wieder einmal seine profunde wirtschaftliche Unkenntnis erkennen, indem er sagt, den Atomkraftbetreibern dürften keine weiteren „Milliardengeschenke“ durch die Verlängerung der Laufzeiten gemacht werden. Dabei ist es umgekehrt. Atomenergie ist eine der billigsten. Volkswirtschaftlich rentieren sich jetzt die Subventionen der vergangenen Jahrzehnte. Statt die einzige CO2-neutrale Energie für die Erreichung der Klimaschutzziele zu nutzen, soll sie mit weiteren Steuergeldern beseitigt werden. Kaum jemand wagt mehr, darauf hinzuweisen, dass in den meisten anderen Ländern umgedacht wird, bis hin zum Bau neuer Atomkraftwerke.

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