Vera Lengsfeld / 30.04.2009 / 19:42 / 0 / Seite ausdrucken

Doppeltagebuch 1989/2009- 30. April

Gorbatschow rüstet atomar gegen Westeuropa auf, meldet die „Welt am Sonntag“. US-Minister Cheney teilte der NATO neue Zahlen über die Modernisierung der Nuklearraketen mit.
In der DDR erklärt der sächsische Bischof Hempel gegenüber dem Staatssekretär für Kirchenfragen Löffler, dass sich viele Bürger vom Staat bereits distanziert haben.
Damit meint der Bischof keineswegs nur Ausreise-Antragsteller und Oppositionelle, sondern Bürger, die aus unterschiedlichen gründen ihre Ablehnung zwar nicht öffentlich machen, die sich innerlich aber längst distanziert haben. Keine DDR-Mentalität. Nirgends. Die wurde erst nach dem Fall der Mauer von der umbenannten Regierungspartei PDS erfunden.
Gestern musste ich im ND-Gebäude mit überwiegend SED-Rentnern diskutieren. Sie hatten vollkommen verdrängt, dass die SED in der Linkspartei weiter exsistiert. Sie forderten allen Ernstes, dass Deutschland auch auf Landesverteidigung verzichten solle.
Sie waren selbstgewiß wie eh und je, überzeugt, dass ihre einzig Position die einzig richtige sei. Sie schienen tatsächlich restlos verdrängt zu haben, was sie vor zwanzig Jahren vertreten haben. Und dann diese Weinerlichkeit, weil sie sich vom vereinten Deutschland immer noch schlecht behandelt fühlen, obwohl sie überdurchschnittlich von der Vereinigung profitiert haben. Aber der materielle Gewinn wird gegenüber dem Machtverlust gering geschätzt.
Um die Arroganz der Macht und Gewalt gehet es auch im ungemütlich aufgeheizten Vor-Mai-Berlin. Ein Politiker der Linken hat eine Demonstration angemeldet, von der alle eine Randale erwarten. Statt ihren Genossen zurückzupfeifen, jammert die Linke im Abgeordnetenhaus, dass die Anmeldung ohne Rücksprache erfolgt sei und lässt ihn gewähren. Kein Aufschrei der Anständigen über diese Verlogenheit. Der Innensenator lässt sich bei einem „Solidaritätsbesuch“ bei Gastwirten im von den Linksradikalen terrorisiert , als er in der Ferne Jugendliche, die er für Autonome hält, sofort von seinen Leibwächtern in die Sicherheit seines Gepanzerten Fahrzeugs bringen. Statt Gesicht zu zeigen, wie er vorn den Bürgern immer wieder fordert, dreht er der Gefahr den Hintern zu.  So viel zur Zivilcourage unseres obersten Polizeichefs, der ab heute Abend erwartet, dass die jungen Männer und Frauen von der Polizei nicht nur ihren ihren Kopf hinhalten, sondern auch ihre körperliche Unversehrtheit riskieren.
Ähnlich peinlich wie die Feigheit unserer Politiker ist nur die Anbetung der Macht durch manche Mainstream-Journalisten. Der Tagesspiegel lieferte auch heute ein Beispiel dafür.
„Wer sich nicht in Gefahr begibt, der kommt drin um” , diese Liedzeile von Wolf Biermann, die in den dunklen Zeiten der DDR dazu ermuntern sollte, vorenthaltene Rechte wahrzunehmen, kam mir beim Lesen des Tendenzstückes von Herrn Hasselmann in den Sinn. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Autonome befinden auf einer “Pressekonferenz” wer in Kreuzberg eine unerwünschte Person ist. Ihre Botschaft wird brav in allen hauptstädischen Zeitungen verbreitet. Ohne Kommentar. Wenn sich aber ein Abgeordneter einer demokratischen Partei diesem autonomen Verdikt nicht beugen will und selbstverständlich davon ausgeht, dass die demokratischen Rechte auch in Kreuzberg für alle gelten, wird er im Tagesspiegel umgehend als “rechter Hardliner” denunziert. Der Verfasser ist sich auch nicht zu schade, die Vorhaben von Kurt Wansner in Anführungsstriche zu setzten und damit den Eindruck zu erzeugen, es gäbe linksextremistische Gewalt nur in der Phantasie des CDU-Abgeordneten. Wenn jetzt Kurt Wansner von einem grünen Politiker der Märtyrertod prophezeit wird, ihm vorgehalten wird, er solle das Kreuzberger Myfest meiden, um sich nicht in Gefahr zu begeben, dann ist das mehr als eine Kapitulation vor den linken Terroristen. Es ist der vorauseilende Gehorsam gegenüber nackter Gewalt. Jahrzehntelang hieß es, wer sich der Mauer nähert, ist selbst schuld, wenn er erschossen wird. Bis massenhafte Nichtachtung dieser Gefahr die Mauer zum Einsturz brachte. Von daher wären Kurt Wansner viele Mitstreiter zu wünschen, sonst sieht es düster aus für Kreuzberg und für die Demokratie.

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