Vera Lengsfeld / 29.10.2009 / 15:05 / 0 / Seite ausdrucken

Doppeltagebuch 1989/2009-  29. und 30. Oktober

Das Scheitern der von der Regierung Krenz inszenierten Dialog-Politik wird immer offensichtlicher. Einer der größten Reinfälle für die SED ist das so genannte Berliner Sonntagsgespräch mit Politbüromitglied Günter Schabowski und anderen Spitzenfunktionären im Roten Rathaus. Unter dem Motto „Offene Türen-offene Worte“, wollten Schabowski und Genossen mit Bürgern diskutieren. Die Claqueure füllten bereits eine Stunde vor Beginn den Veranstaltungssaal. Sie hätten sich das Kommen sparen können, denn die mehr als 20 000 Menschen, die an dem Gespräch teilnehmen wollen, verändern die Bedingungen total. Die Veranstaltung muss im Freien stattfinden. SED-Propaganda wird nicht geduldet. Statt dessen setzen die Demonstranten eine Schweigeminute für die Mauertoten durch und zwingen den Polizeipräsidenten Friedrich Rausch, sich für die Gewaltakte der Sicherheitskräfte in den letzten Tagen und Wochen zu entschuldigen. Auch wenn es den meisten Teilnehmern nicht bewusst ist: dieser Akt ist von besonderer symbolischer Bedeutung. Unweit von der Stelle, an der der oberste Volkspolizist Berlins für die Untaten seiner Untergebenen die Verantwortung übernehmen muss, ist in der 1848er Revolution der preußische König gezwungen worden, seinen Hut vor den Toten der Märzkämpfe zu ziehen.
Der Höhepunkt der Veranstaltung sind die Rufe:” Reisst die Mauer ab!”
Der Unmut, der auf der Straße über die Berichterstattung der DDR-Medien geäußert wird, zeigt Wirkung. Die „Aktuelle Kamera“, die Nachrichtensendung des Fernsehens verspricht ihren Zuschauern, in Zukunft nur noch wahrheitsgetreue Informationen zu senden. Damit hat der Sender eingestanden, bisher die Wahrheit manipuliert zu haben. Journalisten wollen eine Arbeitsgruppe bilden, um ein neues Mediengesetz zu erarbeiten.
In der Bundesrepublik lösen die Ereignisse in der DDR bei manchen linken Politikern starke Abwehrreflexe aus. Der SPD- Politiker Ehrhart Körting fordert, dass die Übersiedlung von DDR-Bürgern per Gesetz erschwert wird. Die Grünen wollen, was sie bisher strikt abgelehnt hatten, nun zwischen Wirtschaftsflüchtlingen und Politischen unterscheiden.
Die Schriftstellerin Monika Maron kommentiert das so: die Linke hätte die DDR als eine Art Laborversuch betrachtet und manches akzeptiert, was sie sich in der BRD „keinen Tag lang hätte gefallen lassen“.


30. Oktober

Der gestrigen Ankündigung lässt das DDR-Fernsehen Taten folgen: Umweltprobleme, die bisher nicht thematisiert werden durften, werden erstmals in ein der Sendung angesprochen. Dabei werden auch die bisher als Staatsgeheimnis behandelten Luftverschmutzungsdaten veröffentlicht.
Die größte Überraschung gibt es am Abend: der Chefkommentator des DDR-Fernsehens Karl-Eduard von Schnitzler, von der Bevölkerung respektlos Sudel-Ede genannt, eröffnet seine berüchtigte wöchentliche Sendung „Der schwarze Kanal“ mit den Worten:“ Diese Sendung wird nach fast dreißig Jahren die kürzeste sein, nämlich die letzte….Einige mögen jubeln, wenn ich diese Fernseharbeit nun auf andere Weise fortsetze. Nicht, dass ich etwas zu bereuen hätte…“ Die Reuelosigkeit ist das Markenzeichen der meisten Verantwortlichen der DDR-Diktatur.
In der „Berliner Zeitung“, immer noch Bezirksorgan der SED, gibt das erste Stück Enthüllungsjournalismus, das glaubhaft machen soll, dass sich die Medien gewandelt haben. Der Vorsitzende der IG Metall im FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, die Einheitsgewerkschaft der DDR) Gerhard Nennstiel wird bezichtigt den Bau seines Eigenheims aus mitteln einer FDJ-Initiative finanziert zu haben. Nennstil tritt am selben Tag zurück.

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