Vera Lengsfeld / 26.09.2009 / 11:26 / 0 / Seite ausdrucken

Doppeltagebuch 1989/2009- 26.  September

Die DDR-Führung hat immer noch nichts begriffen. Sie sichert den Botschaftsflüchtlingen in Warschau und Prag die Ausreise innerhalb von 6 Monaten zu, wenn sie zunächst in die DDR zurückkehren. Kaum einer macht von diesem „großzügigen“ Angebot Gebrauch.
Unter den Menschen, die nicht die DDR verlassen wollen, geht die Mobilisierung weiter. In Erfurt findet in der Augustinerkirche eine Veranstaltung der Opposition statt. Der Termin war nur von Mund zu Mund weiterverbreitet worden. Es kamen mehr als tausend Menschen. Solche Veranstaltungen dienten vor allem dem Verbreiten von Material und dem Austausch von Adressen und Terminen. Sie hatten deshalb einen großen Mobilisierungseffekt.
Auch die traditionell eher staatsnahen Künstler kommen langsam aus der Deckung. So schrieben die „Vertrauensleute der Gewerkschaftsgruppe Künstlerisches Personal“ des „Deutschen Theaters“ einen „Offenen Brief“ an Ministerpräsident Willy Stoph, in dem die Öffnung der DDR-Medien für das „Neue Forum und andere“ Oppositionsgruppen sowie eine Legalisierung derselben gefordert wurde.

Am Jahrestag der ersten Montagsdemo in Leipzig macht die SPD ihre Wahlabschlußkundgebung am Berliner Brandenburger Tor. Der auf der Tribüne versammelten Parteiführung ist das historische des Datums entweder nicht bewusst, oder keine Erwähnung wert.  Der Ort der Veranstaltung war übrigens nicht ungeschickt gewählt, denn die vielen Touristen kaschierten den eher mageren Besuch des Großen Ereignisses. Nur das nicht ausgepackte Material am Rande bezeugte, dass man mit einer zehnfachen Besuchermenge gerechnet hatte. Aufholjagd sieht anders aus. Auf der anderen Seite des Brandenburger Tores hatte sich wie an jedem Freitag die Mahnwache zur Unterstützung der Demokratiebewegung im Iran versammelt. Als ich kam, hielt Anette Ahme eine Rede. Sie erinnerte an die Auftritte von Ghadaffi und Ahmadinedschad vor der Uno uns stellte gerade die Frage, warum diesen Männern nicht wegen Mißachtung der Regeln das Wort entzogen wurde. „Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich bin geschockt von dem?erbärmlichen Zustand der UNO. Daß Ahmadinedschad solche volksverhetzenden und kriegstreiberischen Reden halten konnte, vor einem angeblich so hohen?Hause, verstehe ich nicht. Daß darauf eine Erwiderung erfolgen mußte, stimmt zwar, aber dadurch, daß diese Erwiderung von Netanjahu kam, emtstand der?Eindruck, daß die beiden auf einer Stufe stehen. Gräßlich. Wo war der Tagungspräsident, der gesagt hat: „Solche Parolen sind in diesem Haus nicht?zulässig, ich entziehe Ihnen das Wort?“ Wo war der Tagungspräsident, der Gaddafi in die Schranken gewiesen hätte, der, nachdem er das Auditorium 10?Minuten hatte warten lassen, seine Redezeit (15 Minuten) um das 8-fache überzogen hat?“
In diesem Augenblick näherte sich ein Polizeioffizier den Veranstaltern. Der Herr Vizekanzler Steinmeier fühle sich durch die Geräusche , die von der Mahnwache ausgingen, gestört und bitte darum, die Lautsprecher abzustellen. Anette konnte ihre Rede nicht beenden. Die Namen der frisch Verhafteten wurden anschließend mit so weit herab gedrehten Reglern verlesen, dass die Namen für die Umstehenden kaum zu verstehen waren. So sieht die praktische Solidarität unseres Möchtegern-Kanzlers mit der Demokratiebewegung im Iran aus. Wir haben nicht gehört, dass sie während der Wahlkampfveranstaltung erwähnt wurde, obwohl ein Hinweis auf die Mahnwache und eine kurze Solidaritätsbekundung vielleicht sogar Stimmen gebracht hätten. Die SPD, muss man leider sagen, ist nur noch ein Schatten ihrer selbst.

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