Vera Lengsfeld / 24.06.2009 / 07:00 / 0 / Seite ausdrucken

Doppeltagebuch 1989/2009- 24. Juni

Jetzt wird die Opposition der DDR, die sich „Unabhängige friedens-, Umwelt-, und Menschenrechtsbewegung“ nennt, weil Opposition zu sein per Gesetz verboten ist, wird nun auch offiziell anerkannt. Die „Leipziger Volkszeitung“ veröffentlicht einen Hetzartikel gegen die Besucher der Montags-Friedensgebete. Nun weiß jeder Chef, dass er einschreiten muss, sollte ihm bekannt werden, dass einer seiner Mitarbeiter die Montagsgebete besucht. Der Zeitung bringt ihr Artikel eine Flut von Leserbriefen zugunsten der Montagsgebete ein. Veröffentlicht werden aber nur die Zustimmungen zum Artikel. Das führt zu weiteren Protesten. Die SED-Funktionäre sind alarmiert, sie unterschätzen aber das Problem, das sie hat. Vor allem stört sie die Absicht der Opposition, die Kirchen zu verlassen und auf die Straße zu gehen. Der 1. Sekretär der Bezirksleitung Erfurt kündigt in einer internen Rede an, Gewalt anzuwenden, wenn der Protest aus den Kirchen auf die Straße getragen würde.
Die paar „Hanseln“ sollen gefälligst die Kirche nicht verlassen . Aber wenn sie unbedingt“naß werden“ wollten, dann „können wir das auch bescheren“. Es sind aber längst nicht mehr nur „ein paar Hanseln“, die sich gegen das Regime wehren.

Johannistag. Der Höhepunkt des Sommers ist erreicht und man hat das Gefühl, er müsste erst beginnen. In Sankt Petersburg blüht noch der Flieder, weil es in den letzten Wochen ungewöhnlich kühl war. Ab heute wird es besser. Von den Zweitjobs, die jeder Sankt Petersburger haben muss, um zurecht zu kommen, habe ich schon geschrieben. Manchmal sind die ziemlich schweißtreibend. Als wir gestern in ein Boot stiegen, um die Stadt vom Wasser aus zu erleben, winkte uns ein Junge von der ersten Brücke zu. Wir winkten zurück. Auf der nächsten stand wieder einer. Im gleichen Moment sahen wir, dass es derselbe war. Der Junge joggte tatsächlich eine Stunde neben unserem Boot her, um uns von jeder Brücke zuzuwinken. Allmählich bekam er Konditionsschwierigkeiten und wir begannen schon zu fürchten, ob er die Tour durchhält. Das gelang ihm unter großen Mühen, aber er war, als wir ausstiegen, so erledigt, dass er sich für das Geld, was er bekam, nicht mehr bedanken konnte. Sein Gesicht war leer vor Erschöpfung. Auch unsere Begleiterin Sofia, eine junge Frau, die als Au Pair in Deutschland deutsch gelernt hat, das sie fast akzentfrei spricht, muss nach einem anstrengenden Tag mit uns abends ihrem zweiten Job nachgehen. Dabei ist es hart, Gruppen durch die Sehenswürdigkeiten von Sankt Petersburg zu führen. In Zarskoje Selo muss man mindestens eins Stunde Schlange stehen, ehe man in das Schloss gelassen wird. Drinnen dauert es noch einmal so lange, bis die Tour beginnen kann. Dann muss die Gruppe an bestimmten Punkten warten, um andere Gruppen vorbei zu lassen. In der berühmten „Goldenen Zimmerflucht“, zu der seit einigen Jahren auch wieder das Bernsteinzimmer gehört, schieben sich die Gruppen durch, wie früher auf einer Maidemonstration. Im Allerheiligsten darf jede Gruppe nur kurz verweilen. Man hat kaum Zeit, die Pracht zu betrachten, geschweige denn , den unvergleichlich warmgoldenen Ton der Bernsteinwände zu genießen, da ist man schon wieder draußen. Es war nicht alle schlecht in der DDR. Als ich im Winter 1967 mit einer DDR-Reisegruppe Zarskoje Selo besuchte, hatten wir das Schloss für uns. Sofia wollte kaum glauben, dass die Anlage damals schon restauriert war. Aber die erste Restaurierúng fand bereits in den fünfziger Jahren statt, einschließlich der Vergoldung der Kuppeln und der Zierelemente an den Fassaden. Nun geht die Wiederherstellung ihrem Ende entgegen. Als Gegenstück zum Bernsteinzimmer wird das Jadezimmer restauriert. Alle Besucher können sich davon überzeugen, dass die Zaren alles hatten, was die europäischen Könige und Fürsten besaßen, nur etwas prächtiger.
Das gilt auch für die Eremitage, das Winterpalais des Zaren, das die Kunstsammlungen beherbergt. Im Gegensatz zu dem Namen, der Einsamkeit verspricht, ist man auch hie unter tausenden Menschen, die sich auf ausgeklügelten Routen durch das Gebäude schieben. Ich stelle fest, dass man mehr davon hat, wenn man sich mit einem Bildband in ein Cafe setzt und die Tour auf den Abbildungen nachvollzieht. Auf alles kann man nur den flüchtigsten Blick werfen, der oft genug von Vorübergehenden beeinträchtigt wird. Am Ende des Rundganges beschließe ich, auf das Mittagessen zu verzichten und noch mal allein loszugehen. Und siehe da, man kann sich als Einzelner so bewegen, dass man den Massen aus weicht. Ich komme in einen wunderschönen Saal, den ich noch nicht gesehen zu haben glaubte. Plötzlich merke ich, dass ich bei den zwei Da Vincis bin, über die die Ermintage verfügt. Vor einer Stunde war ich zwar vorbeigespült worden, hatte die Umgebung aber nicht wahrnehmen können. Die beiden Madonnenbilder hatten sofort nach dem Touristensturm ihre Magie zurück gewonnen. Einem Kunstwerk kann Massenkonsum nichts anhaben.

 

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