Vera Lengsfeld / 23.06.2009 / 20:23 / 0 / Seite ausdrucken

Doppeltagebuch 1989/2009- 23. Juni

Für die Verletzten und Verhafteten der Vortage, gibt es in Dresden einen Klagegottesdienst für alle Opfer staatlicher Willkür. Über 2000 Besucher nehmen daran teil, so viel, dass die Staatssicherheit diesmal gar nicht erst versucht, die Gottesdienstbesucher nach Ende der Veranstaltung festzuhalten, um ihre Personalien zu notieren. Sie beschränkt sich auf das heimliche Fotografieren.
In Berlin wird eine Ausstellung eröffnet mit Samisdat- Zeitschriften aus dem Besitz von Ulrike Poppe und Ehrhart Neubert. Sie gibt einen Überblick über die erstaunlich vielfältigen Aktivitäten der Opposition.
Der Regierende Bürgermeister von Berlin Walter Momper verkündet, wie das „Neue Deutschland“ berichtet, dass es eine Europäische Friedensordnung nur mit zwei gleichberechtigten deutschen Staaten geben kann.


Der Wächterrat im Iran hat die Annullierung der Wahl abgelehnt. Es hätte zwar vereinzelte Unregelmäßigkeiten gegeben, aber keine systematische Wahlfälschung. Das war vorauszusehen. Deshalb muss der Westen auf eine Wiederholung der Wahl unter strengster internationaler Kontrolle drängen. Wenn Ahmadinedschad wirklich so haushoch gewonnen hat, wie er behauptet, braucht er eine Wiederholung nicht zu fürchten. Im Gegenteil, sie würde ihm den ultimativen Triumph bescheren. Wahrscheinlicher aber ist, dass er eine Wiederholung nicht riskieren kann, weil er um jeden Preis an der Macht bleiben will.

Für Besucher von Sankt Petersburg ist das Mariinski Theater ein Muß. Ich hatte das Glück, nicht nur an der Abendkasse noch Karten zu bekommen, sondern dass es eine Aufführung des berühmten Kirow- Balletts war, mit Schostakowitschs Leningrader Symphonie als Höhepunkt.
Vorher kamen nach mehreren kleinen Stücken, von denen der „Schwan“ von Camille Saint-Sans mit Irma Nioradze unvergesslich bleiben wird, die Nocturnes von Frederic Chopin, choreographiert vom Broadway-Star Jerome Robbins. Vor seinem Erscheinen hier war Robbins in Sankt Petersburg bereits eine Legende, vor allem , weil seine Verfilmung der Wetside- Story in der Sowjetunion Furore gemacht hatte. Robbins hatte bereits 1970 aus den Nocturnes von Chopin ein Ballett entwickelt:, „In der Nacht“, das die ewige Geschichte von Mann und Frau an Hand von drei Paaren erzählt, die im finalen Tanz gemeinsam auftreten. Er lässt den Tänzern dabei Interpretations-Spielraum, so dass jede Aufführung etwas anders ist. Die gestrige hat das Publikum zu Begeisterungsstürmen hingerissen. Zu Sowjet- Zeiten war es üblich, dass das Publikum mitgebrachte Blumen einfach auf die Bühne warf. Heute müssen sie abgegeben werden und eine befugte Person überreicht sie dann auf der Bühne dem ausgewählten Tänzern. So kann man an der Anzahl und Größe der übergebenen Sträuße feststellen, wer der Publikumsliebling des Abends ist.
Bei den Männern war es eindeutig Mikhail Lobuchkhin, der auch die Hauptrolle in der Leningrader Symphonie tanzte.
Ich hatte eigentlich kurzzeitig erwogen, das Theater nach dem Chopin-Stück zu verlassen, weil ich meinte, besser könnte es nicht mehr werden, Dann ließ mich der Gedanke, wie unpassend es wäre, ausgerechnet in Sankt- Petersburg Schostakowitsch zu verschmähen, bleiben. Zum Glück. Mir wäre eine eindrucksvolle, eine grandiose Aufführung entgangen.
Am Anfang sieht man die Noten des Themas aus dem ersten Satz der 7. Symphonie und Schostakowitschs Unterschrift. Darunter treffen sich junge Leute und genießen : ihr Zusammensein . Irritierend sind nur die gelegentlichen Militärübungen und die beiden Suchscheinwerfer, die das Friedliche der Szene stören. Irritierend ist auch ,dass das Thema schon in dieser idyllischen Szene merkwürdig verzerrt, wie gestört wirkt. Die Vorkriegsidylle war keine. Der Komponist hat das Thema heimlich das Stalinthema genannt. Aus dem Stalinthema wird das Invasionsthema. Der hellblaue Hintergrund wird abgelöst durch eine schwarze Wand mit einer blutroten, stilisierten Hand. Es könnte auch ein verzerrter roter stern sein.Es treten die braunen Tänzer auf, die allein durch das zackige ihrer Bewegungen Unruhe und Angst verbreiten. Die Hälfte der jungen Leute geht sofort zu Boden. Die verbleibenden jungen Frauen formieren sich zu einer Klagegruppe im Vordergrund, während auf der Bühne der Kampf entbrennt. Sie erinnern daran, dass alle gefallenen und geopferten Soldaten von Müttern, Schwestern, Geliebten, Frauen betrauert wurden. Was hier gezeigt wird, ist ehrlicher, als die offizielle Geschichtsschreibung, nicht der Sowjetunion, sondern Russlands. Die Jungen treten barfuss, mit nacktem Oberkörper und auf dem Rücken gefesselt wirkenden Händen gegen die braune Flut an. Eine Reminiszenz an die blutjungen Soldaten der Roten Armee, die vom Kessel von Tarnopol, über Stalingrad bis zur Schlacht auf den Seelower Höhen waffenlos, untergehackt gegen die deutschen Stellungen getrieben und von den eigenen Politkommissaren erschossen wurden, wenn sie zurückwichen. Mitten im tödlichen Tanz löst sich der Verräter aus der Masse der Jungen, leckt den Braunen die Stiefel, wird von den Stiefeln getreten, fordert Opfer. Die Beine der Tänzer werden zum Schafott, auf dem das Mädchen sein Leben lässt.  Am Ende liegen alle am Boden. nur ein Brauner scheint noch da zu sein. Aber dann steht einer, der schon tot schien, wieder auf und besiegt den Braunen mit letzter Kraft. Kein e Siegesfanfare, kein heroischer Ton. Es gibt kein Heldentum , nur unendliche Erschöpfung. Und Ratlosigkeit.
Nach dem Krieg wird ein rotes Banner gehisst, das bald herab fällt und unbeachtet liegen bleibt. Es gibt keine „Gegenkraft“, auch musikalisch nicht. Schostakowitsch hat das später unter dem Druck des stalinistischen Regimes geändert und das Stück heroisiert. Hier wurde die Urfassung gezeigt, wie sie 1961 im Kirow-Theater zur Aufführung kam, getanzt von den jüngeren Brüdern und Schwestern derer, die zwar gesiegt hatten, aber diesen Sieg nicht erleben konnten. Die Leningradre Symphonie ist kein antifaschistisches, sie ist ein antitotalitäres Stück. Das Publikum bescherte der Aufführung sechs Vorhänge.

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