Vera Lengsfeld / 02.05.2009 / 09:13 / 0 / Seite ausdrucken

Doppeltagebuch 1989/2009- 1. und 2. Mai

In Leipzig passiert etwas Unerhörtes: am Rande der offiziellen Maidemonstration findet ein Schweigemarsch statt, der sofort von der Polizei aufgelöst wird.
In Budapest war die zehn Meter hohe Leninbüste, vor der jahrzehntelang die Maiaufmärsche stattgefunden hatten, verschwunden. Der auf wenige hundert zusammengeschrumpfte Demonstrationszug von Altgenossen zeigt überwiegend Regenschirme statt Rote Fahnen. Nach einer halben Stunde war der Spuck vorbei.
In Polen gab es die erste Maikundgebung der frisch zugelassenen Solidarnosc. Die Polen demonstrierten für höhere Löhne , bessere Versorgung, vor allem für mehr Demokratie.
Vor der Demonstration hatten einige Zehntausend in und um die Stanislaus-Kostka-Kirche herum während eines Gottesdienstes des von der Staatssicherheit ermordeten Priesters Popieluszko gedacht.
Nur in Ostberlin war alles wie immer: Honecker stand mit seinem saarländischen Altherrenhütchen auf der Tribüne und ließ drei Stunden lang die Demonstranten an sich vorbei marschieren. Die überall angebrachten Lautsprecher brüllten Kampflieder. Einige davon kannten die älteren Demonstranten bereits aus ihrer HJ-Zeit. Neben Honecker standen seine Politbüro-Klone, mit ähnlichen Hütchen und wie er in sozialistischem Einheitsgrau
In Berlin-Kreuzberg verwüsten „Chaoten“ den Bezirk, fackeln Autos ab, plündern Geschäfte, werfen Steine auf Polizisten, stoppen die U-Bahn. Die Bilder gleichen sich seit zwanzig Jahren. Die verharmlosende Berichterstattung auch.

2. Mai
Der Ostblock bröckelt nicht mehr nur, er bricht. Es entsteht ein großer Riß in der Mauer.
An der Staatsgrenze zu Österreich beginnen ungarische Pioniere mit der Entfernung des Eisernen Vorhangs. Die Soldaten hatten vorher wochenlang das Entfernen und Einrollen von großen Stacheldrahtmengen in einem Waldstück geübt. Nun verläuft der Abbau der Grenzanlagen schnell und effizient. Die Bevölkerung wird aufgerufen, die Armee dabei zu unterstützen und tut das tatkräftig, nachdem sie sich von ihrer Überraschung erholt hat.
In Hegyshalom, einem Ort in der Nähe des spektakulären Grenzabbaus, wurden die aus Budapest eingeladenen Journalisten in der Dorfschule versammelt. Dort wurde ihnen von einem Oberst Novaky folgendes mitgeteilt:
Die Grenzanlagen wären altersschwach, verrostet und müssten runderneuert werden. Das würde viel Geld kosten, geschätzte180 Millionen US-Dollar. Geld, das der ungarische Staat nicht habe. Deshalb habe man sich zum Abbau der Anlagen entschlossen. Die Grenze würde ab sofort normal bewacht, es gäbe auch noch Grenzpatrouillen im Hinterland. Für das ZDF war der Korrespondent Joachim Jauer dabei. Er fragte Novaky, ob diese Aktion mit dem Warschauer Pakt abgestimmt sei. „Diese Maßnahme… ist eine innere Angelegenheit unseres Landes.“ Was die Urlauber der DDR beträfe, das wäre wiederum eine Angelegenheit der DDR. „Wahrscheinlich wir es hier demnächst eine Völkerwanderung geben.“ Jauer brachte diese Nachricht abends in die heute- Sendung. Sie verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die DDR. Prompt wurden massenhaft Urlaubsanträge nach Ungarn gestellt.

Die Maikrawalle gestern und die Berichterstattung darüber verdienen eine eigene Betrachtung, die demnächst folgt

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Vera Lengsfeld / 21.04.2024 / 10:00 / 34

„Der General muss weg!” Der Fall Siegfried Buback

Als ich noch in der DDR eingemauert war, hielt ich die Bundesrepublik für einen Rechtsstaat und bewunderte ihren entschlossenen Umgang mit den RAF-Terroristen. Bis herauskam,…/ mehr

Vera Lengsfeld / 11.03.2024 / 16:00 / 20

Wie rettet man eine Demokratie?

Warum lässt die schweigende Mehrheit zu, dass unter dem Schlachtruf, die Demokratie und das Grundgesetz zu verteidigen, beides ausgehöhlt wird? Was man ganz einfach tun…/ mehr

Vera Lengsfeld / 06.02.2024 / 12:00 / 38

Wie man Desinformation umstrickt – und noch schlimmer macht

Wenn man gewisse „Qualitätsmedien" der Fehlberichterstattung und Manipulation überführt, werden die inkriminierten Texte oft heimlich, still und leise umgeschrieben. Hier ein aktuelles Beispiel.  Auf diesem Blog…/ mehr

Vera Lengsfeld / 04.02.2024 / 15:00 / 20

Die Propaganda-Matrix

Die öffentlich-rechtlichen Medien und die etablierten Medien leiden unter Zuschauer- und Leserschwund, besitzen aber immer noch die Definitionsmacht. Das erleben wir gerade wieder mit einer Propaganda-Welle. …/ mehr

Vera Lengsfeld / 02.02.2024 / 06:05 / 125

Wie man eine Desinformation strickt

Am 30. Januar erschien bei „praxistipps.focus.de“ ein Stück mit dem Titel: „Werteunion Mitglied werden: Was bedeutet das?“ Hier geht es darum: Was davon kann man davon…/ mehr

Vera Lengsfeld / 06.01.2024 / 06:25 / 73

Tod eines Bundesanwalts

Als ich noch in der DDR eingemauert war, hielt ich die Bundesrepublik für einen Rechtsstaat und bewunderte ihren entschlossenen Umgang mit den RAF-Terroristen. Bis herauskam,…/ mehr

Vera Lengsfeld / 29.12.2023 / 13:00 / 17

FDP #AmpelAus – Abstimmung läuft noch drei Tage

Die momentane FDP-Führung hatte offenbar die grandiose Idee, die Mitgliederbefragung unter dem Radar über die Feiertage versanden zu lassen. Das Online-Votum in der FDP-Mitgliedschaft läuft…/ mehr

Vera Lengsfeld / 28.12.2023 / 10:00 / 124

Wolfgang Schäuble – Tod einer tragischen Figur

Wolfgang Schäuble, die große tragische Figur der deutschen Nachkriegspolitik und gleichzeitig ein Symbol für das Scheitern der Parteipolitik, wie sie sich in Deutschland entwickelt hat…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com