In Leipzig passiert etwas Unerhörtes: am Rande der offiziellen Maidemonstration findet ein Schweigemarsch statt, der sofort von der Polizei aufgelöst wird.
In Budapest war die zehn Meter hohe Leninbüste, vor der jahrzehntelang die Maiaufmärsche stattgefunden hatten, verschwunden. Der auf wenige hundert zusammengeschrumpfte Demonstrationszug von Altgenossen zeigt überwiegend Regenschirme statt Rote Fahnen. Nach einer halben Stunde war der Spuck vorbei.
In Polen gab es die erste Maikundgebung der frisch zugelassenen Solidarnosc. Die Polen demonstrierten für höhere Löhne , bessere Versorgung, vor allem für mehr Demokratie.
Vor der Demonstration hatten einige Zehntausend in und um die Stanislaus-Kostka-Kirche herum während eines Gottesdienstes des von der Staatssicherheit ermordeten Priesters Popieluszko gedacht.
Nur in Ostberlin war alles wie immer: Honecker stand mit seinem saarländischen Altherrenhütchen auf der Tribüne und ließ drei Stunden lang die Demonstranten an sich vorbei marschieren. Die überall angebrachten Lautsprecher brüllten Kampflieder. Einige davon kannten die älteren Demonstranten bereits aus ihrer HJ-Zeit. Neben Honecker standen seine Politbüro-Klone, mit ähnlichen Hütchen und wie er in sozialistischem Einheitsgrau
In Berlin-Kreuzberg verwüsten „Chaoten“ den Bezirk, fackeln Autos ab, plündern Geschäfte, werfen Steine auf Polizisten, stoppen die U-Bahn. Die Bilder gleichen sich seit zwanzig Jahren. Die verharmlosende Berichterstattung auch.
2. Mai
Der Ostblock bröckelt nicht mehr nur, er bricht. Es entsteht ein großer Riß in der Mauer.
An der Staatsgrenze zu Österreich beginnen ungarische Pioniere mit der Entfernung des Eisernen Vorhangs. Die Soldaten hatten vorher wochenlang das Entfernen und Einrollen von großen Stacheldrahtmengen in einem Waldstück geübt. Nun verläuft der Abbau der Grenzanlagen schnell und effizient. Die Bevölkerung wird aufgerufen, die Armee dabei zu unterstützen und tut das tatkräftig, nachdem sie sich von ihrer Überraschung erholt hat.
In Hegyshalom, einem Ort in der Nähe des spektakulären Grenzabbaus, wurden die aus Budapest eingeladenen Journalisten in der Dorfschule versammelt. Dort wurde ihnen von einem Oberst Novaky folgendes mitgeteilt:
Die Grenzanlagen wären altersschwach, verrostet und müssten runderneuert werden. Das würde viel Geld kosten, geschätzte180 Millionen US-Dollar. Geld, das der ungarische Staat nicht habe. Deshalb habe man sich zum Abbau der Anlagen entschlossen. Die Grenze würde ab sofort normal bewacht, es gäbe auch noch Grenzpatrouillen im Hinterland. Für das ZDF war der Korrespondent Joachim Jauer dabei. Er fragte Novaky, ob diese Aktion mit dem Warschauer Pakt abgestimmt sei. „Diese Maßnahme… ist eine innere Angelegenheit unseres Landes.“ Was die Urlauber der DDR beträfe, das wäre wiederum eine Angelegenheit der DDR. „Wahrscheinlich wir es hier demnächst eine Völkerwanderung geben.“ Jauer brachte diese Nachricht abends in die heute- Sendung. Sie verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die DDR. Prompt wurden massenhaft Urlaubsanträge nach Ungarn gestellt.
Die Maikrawalle gestern und die Berichterstattung darüber verdienen eine eigene Betrachtung, die demnächst folgt