Vera Lengsfeld / 17.11.2009 / 12:09 / 0 / Seite ausdrucken

Doppeltagebuch 1989/2009- 17. November

Die Verhältnisse in der betonierten Tschechoslowakei kommen in Bewegung. In Prag findet eine große Demonstration zu Ehren des von den Nationalsozialisten ermordeten Jan Opletal statt. Etwa 50 000 Studenten und Professoren haben sich auf dem Wenzelsplatz versammelt. Die Demonstration ist genehmigt. Aber als die Studenten „Freiheit!, Freiheit!“ zu rufen beginnen, schreitet die Polizei ein. Bei der folgenden Schlägerorgie gibt es viele Verletzte.
In Ostberlin tagt schon wieder die Volkskammer. Die Alibi-Parlamentarier wollen richtige Volksvertreter werden. Bei ihrer letzten Sitzung am 13. November hatten die Abgeordneten den SED- Bezirkschef Hans Modrow zum Ministerpräsidenten gewählt. Nun bildet Modrow seine Regierung. Statt bisher 44 Minister weist das Kabinett Modrow „nur“ noch 28 auf, darunter drei Frauen, satt bisher nur einer. Ein großer Teil seiner Minister ist als Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit registriert. Die Blockparteien stellen mehr Minister als je zuvor in einer Regierung. Das Kabinett Modrow nennt sich „Koalition“. Stellvertreter von Modrow wird der für Kirchenfragen zuständige CDU-Chef Lothar de Maiziere. Ursprünglich war der Konsistorialpräsident Manfred Stolpe für dieses CDU-Amt vorgesehen. Da sein Vorgesetzter, der Berliner Bischof Gottfried Forck, aber Stolpes Dienstentlassung ankündigte, sollte er Mitglied der Regierung werden, zog Stolpe seine Zusage zurück. Er wusste, dass er auf den Schutz der Kirche nicht verzichten konnte.
In seiner Regierungserklärung verspricht Modrow jedem alles: die Unumkehrbarkeit der Demokratisierung, Einbeziehung der verschiedenen Interessengruppen in die weitere Umgestaltung der Gesellschaft, Aufbau rechtsstaatlicher Verhältnisse, eine Wirtschaftsreform, Umweltschutz. Für sein Programm braucht er vor allem viel Geld aus dem Westen. So einfach war das aber nicht mehr zu bekommen.
Die Volkskammerabgeordneten beginnen eine groß angelegte Säuberungsaktion. Bereits am 13. November waren 27 Abgeordnete ersetzt worden. Nun folgen weitere. Etwa die Hälfte verliert ihren Sitz. Rechtlich gesehen ist das Verfahren mehr als fragwürdig. Es zeigt vor allem, dass die Volksvertreter noch lange nicht in der Demokratie angekommen sind.

Heute macht uns die alltägliche Verklärung der DDR zu schaffen. Ein Beispiel ist der gestrige Tagesspiegel-Artikel über die FDJ-Kaderschmiede am Bogensee http://www.tagesspiegel.de/berlin/Brandenburg-Bogensee-FDJ-Schule-Jana-Dimmey-Rote-Stuehle;art128,2950918
an der u. a. Terroristen, wie die der RAF geschult wurden und die jetzt vor sich hin rottet. Bedenklicher als ein schlecht recherchierter Artikel ist aber, dass kritische Leserbriefe dann im Diskussionsforum unterdrückt werden. Deshalb können Sie hier den Brief von Philipp Lengsfeld lesen, den der Tagesspiegel nicht veröffentlichen wollte:
Unsägliche Verharmlosung

Der Artikel über die FDJ-Kaderschmiede ‚Wilhelm Pieck’ am Bogensee ist
aus meiner Sicht eine bewusste oder unbewusste aber in jedem Falle
unsägliche Verharmlosung des DDR-Systems. Was hier im Text und Bild
(Tischtennisplatten, Festtagsreden von Honecker, Topfpflanzen) als
harmlose Quasiferienanlage daherkommt (ein unbedarfter Leser assoziert
eine Art sozialistische Version einer Sommersprachschule) war eine
knallharte, nicht-öffentliche, militärisch gesicherte kommunistische
Kaderschmiede in der u.a. internationale Kämpfer, vulgo Terroristen
ausgebildet wurden. Und wenn nicht alle Absolventen RAF- oder
POL-Kämpfer waren, so war doch das Ziel dieser Hochschule die Ausbildung
von Kadern für den antiimperialistischen Kampf in allen seinen Facetten
(Agitation, Propaganda, Desinformation, Unterwanderunge etc.). Ein Teil
des andauernden Erfolgs der Linkspartei liegt ganz sicherlich auch darin
begründet, dass viele ihrer aktiven Mitglieder genau diese Art von
Eliteausbildung/- drill in der DDR oder der Sowjetunion oder sonstewo
durchlaufen haben. Die im Artikel suggerierte Lagerromantik (gemeinsames
Singen, tränenreich beendete Liebschaften etc.) scheint nur durch einen
Abhörraum des Stasi ein klein wenig getrübt (aber nur ein wenig, da der
Schulleiter am nächsten Tag nach Lästereien nur nicht mehr grüßt) – wie
naiv darf ein Tagesspiegelredakteur eigentlich sein? Die Realität war
vermutlich eine ganz andere. Bei nur dem leisesten Verdacht eines
möglichen Fehlverhaltens oder gar eines Verrats endet das ‚Sommercamp’
mindestens im Stasi-Untersuchsgefängnis Hohenschönhausen, wenn nicht gar
mit einem als Unfall getarnten Todesurteil in oder außerhalb der DDR.
Als Lektüre seien hier exemplarisch nur die Erinnerungen der
RAF-Terroristen empfohlen.

Nachtrag: Inzwischen hat der Tagesspiegel den Leserbrief veröffentlicht. Reaktion auf den Achse-Beitrag?

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