Warum wurde Michail Chodorkowski wirklich aus seinem Straflager freigelassen? In Russland hält sich hartnäckig das Gerücht, dass die Vorwürfe gegen ihn im Laufe der Jahre immer mehr zusammengeschrumpft sind. Ursprünglich sprach man von einem Steuerbetrug in Milliardenhöhe. Zuletzt soll es aber nur noch um einen Geldbetrag von 575 Euro gegangen sein. Und nach knapp zehn Jahren im Straflager habe sich nun herausgestellt, dass ihm auch der 575-Euro-Betrug nicht nachzuweisen ist.
Eine 2500 Mann starke Verfolgungsbehörde, unterstützt von der gesamten russischen Geheimpolizei, hatte alle mündigen Bürger Russlands vernommen, um Chodorkowski die Tat nachzuweisen. Vergebens. Zwar sei unbestritten, dass ein befreundeter Filmproduzent an einem schönen Oktoberabend Chodorkowski ein Festessen mit Kaviar, Krimsekt und Balalaika-Musik ausgegeben hat. Chodorkowskis Darstellung, er habe lediglich seine Brieftasche vergessen und seinem Freund noch am gleichen Abend das Geld zurückgegeben, konnte aber trotz der unermüdlichen Nachforschungen nicht widerlegt werden. Auch die Frage, wer seinerzeit das Trinkgeld gezahlt hat, ließ sich nach einem Jahrzehnt intensivster Ermittlungen nicht genau klären.
Darum sei es nicht länger zu verantworten gewesen, Chodorkowski weiter in Haft zu halten. Nun, da er wieder auf freiem Fuß sei, könne man sagen: Ende gut, alles gut. Natürlich sei es bedauerlich, dass Chodorkowski seine Ambition, Staatspräsident zu werden, wegen seiner langen Abwesenheit und der damit verbundenen Beschädigung seines Leumundes, nicht verwirklichen konnte. Aber das sei nun mal der Preis staatlicher Ermittlungsmaßnahmen.
Chodorkowski will, so heißt es, demnächst eine Selbsthilfegruppe gründen, in der sich Menschen, die ähnliche Schicksale erlitten haben, austauschen können. Ein ehemaliger Politiker aus Hanover soll bereits Kontakt mit ihm aufgenommen haben. Der sei interessiert, wolle aber noch seinen endgültigen Freispruch abwarten. Anders als Chodorkowski habe der Interessant aus Hanover während der endlosen Ermittlungen gegen ihn nicht einrücken müssen. Die Staatsgewalt habe sich vielmehr damit begnügt, mit Hilfe der Medien seine gesellschaftliche Ächtung zu veranlassen.
Aus der Umgebung der Verfolgungsbehörden heißt es dazu: Diese milde Form der Vorabbestrafung, die man als eine Art psychologischer Fußfessel betrachten könne, sei zeitgemäß und einem modernen Rechtsstaat angemessen. Sie verhindere jegliche Flucht- und Verdunkelungsgefahr, gebe dem Betroffenen aber die Gelegenheit, in seiner gewohnten Umgebung zum Friseur zu gehen und Bier zu holen. Dies natürlich unter Aufsicht der dazu eingeteilten Fotografen.
Wie es heißt, soll Michail Chodorkowski diese Vorgehensweise als „behutsam“ und „beispielhaft“ gelobt haben. Sie sei ein weiterer Beleg dafür, dass Deutschland eine lupenreine Demokratie sei.