Vor der Wahl ist nach der Wahl, könnte man sagen, steht doch die Siegerin bereits fest. Es ist Angela Merkel. Sie, die Kanzlerin, wird, unabhängig vom Wahlausgang, wohl auch die nächste Kanzlerin sein, wer sonst? Und der Vizekanzler? Das allerdings ist vor der Wahl eine politische Frage, danach wohl eher eine Personalie.
Bleibt der SPD das Debakel nicht erspart, wird sie es zur Niederlage ihres Kandidaten erklären müssen, und diesen dankend verabschieden. Dabei kamen die Deutschen mit Steinmeier ganz gut aus, so lange er das Territorium seines Ministeriums nicht verließ.
Merkel und Steinmeier sind das ungleiche Paar schlechthin. Er wirkt neben ihr wie der typische Politiker von gestern, der mit den Versprechungen. Vier Millionen Arbeitsplätze, das hätte man lieber als Versprecher gewertet. Sie hingegen, neben ihm, ist die souveräne zeitgemäße Akteurin, die zwar keine Probleme löst, es aber versteht, den Umgang mit was auch immer möglich erscheinen zu lassen. Ihr Geheimnis: Stets den Eindruck vermitteln, es gebe keinen Handlungsbedarf.
Das augenblickliche Deutschland will kein Drama verhandeln, mit Ängsten kann man hier nicht weiter punkten, auch mit Versprechungen nicht. Das einschlägige Vokabular, von „Sozialabbau“ bis „Reichensteuer“ ist restlos verbraucht. Das Volk will keine Visionen von Gewerbegebieten und Arbeitsplätzen, sondern den nächsten Bankkredit zu vertretbaren Konditionen. Man möchte Mittelstand sein.
Jetzt, wo die Ideologien sind tot, kann alles pragmatisch angegangen werden, und ist damit Normalität. Deutschland ist zum ersten Mal wieder so normal wie zu Bismarcks Zeiten. Neu ist nur, dass es ohne einen Bismarck auch geht.
Die Gerechtigkeitsideologie abzulegen, heißt ja nicht, auf den Sozialstaat zu verzichten. Es heißt nur, ihn nicht mehr einer politischen Partei zuzuordnen. Heute gehören alle Themen allen, und sie kommen in der Diskussion nicht selten als Gemeinplatz daher. Wer sie re-politisiert, zerredet sie.
Es gibt eine Grundausstattung von Gesellschaftsinstrumenten, der das gesamte ernstzunehmende politische Spektrum verpflichtet ist. Es gibt nichts mehr, was politisch zu erkämpfen wäre, es gilt vielmehr das längst Erkämpfte zu erhalten. Wenn beide Großparteien am gleichen Strang ziehen, kann es passieren, dass die Union plötzlich als „linksliberal“ erscheint, und die SPD als „konservativ“. Während die Merkel-CDU die Verkennung mit Gelassenheit aufzunehmen weiß, versteht in der SPD so mancher Genosse die Welt nicht mehr.
Noch einmal: Es kommt jetzt auf das Kleingedruckte an, nicht auf die Systemfrage. Das ist der Kern unseres Biedermeier. Wer überall die Systemproblematik wittert, stellt sich außerhalb des Wettbewerbs. Es geht nicht ums Ganze, ums Ganze ging es bis 1989. 1989 aber änderte für den Westen weder etwas am Freiheitsbegriff, noch an der Gerechtigkeitsfrage. Beides unterliegt der Kalkulation.
Im Fall Merkel hatten die Journalisten ihr soziologisches Repertoire schnell durch. Das wird jedes Mal klar, wenn es zur Dekolletefrage kommt. Geht man davon aus, dass das Feuilleton der Boulevard der Politik ist, so wird man darin ebenso viel und genau so wenig über Angela Merkel erfahren als am klassischen Boulevard. Der Unterschied ist: Wo der klassische Boulevard sich auf das Event beschränkt, versucht das Feuilleton auch noch das jeweilige „Making of…“ zu präsentieren.
Das Zentrum des Boulevards bildet die Familie mit ihrem Drum und Dran, auch wenn sie totgesagt wird, oder von der Patchwork -Familie abgelöst sein mag, sie macht sich zumindest als Familienbegriff weiterhin öffentlich bemerkbar. Die Familienkonstellation wird immer noch auf alle anderen Bereiche übertragen. In der Politik erscheint sie zur Zeit unter dem Namen große Koalition. Darin ist Angela Merkel nicht primär Kanzlerin, Kanzler war ein Adenauer, sei ist vielmehr Moderatorin, in der Familientitulierung würde man sagen, die kinderlose Tante. Diese hat zwar für jeden etwas übrig, ist aber zu nichts verpflichtet. Ihre Autorität bezieht sie aus ihrem geschickten Verhalten. Sie gibt ganz gute Ratschläge, aber sie haftet nicht dafür. Angela Merkel ist in der Kanzlerreihe die Präsidentin, und in dieser Rolle ist auch schon mal ein Machtwort angebracht.
Angela Merkel ist eigenschaftslos gesamtdeutsch. Bis kurz vor ihrem Amtsantritt konnte man noch meinen, es genüge die Kenntnis des Berner Fußballspiels, um die Massen zu überzeugen, heute weiß man, es geht nicht um die Massen, in der Berliner Republik geht es um die Republik. Fußball war gestern, heute ist Bayreuth. Und Merkel ist die erste Kanzlerin mit erklärtem Bezug dazu.
Das vereinigte Deutschland braucht sein Berner Spiel nicht mehr, es wird von Bayreuth angezogen. Es will nicht mehr die Tore wie Erbsen zählen müssen, um sich angemessen Gehör zu verschaffen, es will zurück zu seinen angestammten Mythen. Und Bayreuth ist ein gesamtdeutscher Ort wie keiner. Er repräsentiert das Gesamtdeutsche der Bürgerlichkeit. Sozusagen die wahre innere Einheit. Die des Mittelstands.