Eran Yardeni
In seinem Werk „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ (1962) erklärt uns Thomas Kuhn, welche Vorbedingungen erfüllt werden müssen, damit wissenschaftliche Revolutionen stattfinden. Die kritische Phase in der Entwicklung jeder wissenschaftlichen Revolution ist der Moment, in dem mehr und mehr Anomalien auftauchen, d.h. Fälle, die im Rahmen der akzeptierten Erklärmuster, die Kuhn als „Paradigma“ bezeichnet, nicht mehr erklärt werden können. Dann verliert dieses Paradigma an Gewicht und die Wissenschaft gerät in eine Krise, die in einem Paradigmenwechsel münden kann, wenn es ein alternatives Paradigma gibt. Es kling logisch und auch ziemlich einfach: Wenn das Erklärmuster nicht mehr erklären kann, was es erklären soll, dann muss man nach einem besseren Erklärmuster suchen. Wo liegt denn das Problem?
Das Problem liegt darin, dass der Mensch nicht so einfach und nicht ohne Kampf auf das Bekannte verzichtet. Deshalb ist es kein Wunder, dass die erste Phase der Krise dadurch gekennzeichnet ist, dass die Wissenschaftler hartnäckig auf der Richtigkeit ihres Paradigmas bestehen und versuchen die Anomalien, trotz der immer großer werdenden Schwierigkeiten, im Rahmen des bekannten Paradigma zu erklären.
Die Trennung von einem Paradigma ist ein schmerzhafter Vorgang - aber trotzdem notwendig, wenn man den Fortschritt der Wissenschaft garantieren will.
Genau in dieser kritischen Phase befindet sich heute Europa. Sein Paradigma bezüglich sozialer Vorgänge stößt auf mehr und mehr Anomalien, die im Rahmen der bekannten Erklärmuster nicht mehr verstanden werden können. Z.B. die Schwierigkeiten der Migranten aus islamischen Gesellschaften, sich in Aufnahmegesellschaft zu integrieren. Nach dem europäischen Paradigma sind alle Kulturen gleichwertig. Deshalb sind es immer die Diskriminierung und die Benachteiligung, der Rassismus und der Eurozentrismus, die es diesen Einwanderern unmöglich machen, sich zu entfalten. Die Anomalien, d.h. die Erfolgsgeschichten anderer Einwanderer, die aus anderen Kulturkreisen stammen, häufen sich zwar, reichen aber nicht aus, um Europa zum Nachdenken zu bewegen. Die Krise ist schon da, der Paradigmenwechsel noch nicht.
Um diesen Vorgang ein bisschen zu beschleunigen, möchte ich als Alternative das folgende Erklärmuster vorschlagen. Der Islam in Europa soll nicht mehr nur als religiöse Erscheinung betrachtet werden (als solche ist er natürlich legitim und soll, genau wie das Judentum und das Christentum, unter dem Schutz der Religionsfreiheit stehen), sondern auch als ideologische Massenbewegung, die nach politischer, kultureller und symbolischer Macht strebt. Von dieser Bewegung ist schon bekannt, dass die Länder, in denen sie die geistige und die politische Herrschaft übernahm, an Frauenunterdrückung, Armut, Analphabetismus, Menschenrechteverletzungen, politischer und religiöser Verfolgung, schwachem Gesundheitssystem und verfallenem Erziehungswesen leiden. Außerdem ist bekannt, dass die gesellschaftlichen Werte, nach denen diese Gesellschaften ihren Alltag gestalten, in direktem Gegensatz zu den Grundideen der westlicher Kultur stehen.
Dieses Paradigma soll keinen von uns optimistisch stimmen. Es taugt aber dazu, die Anzahl der Anomalien zu reduzieren.