Von Hans Dieter Sauer
Als die Kanzlerin nach Fukushima, getrieben von der Stimmung im Land, ihre aberwitzige energiepolitische Kehrtwende einleitete und einen schnellstmöglichen Ausstieg aus der Kernenergie ankündigte, hätte sich als Stimme der Vernunft eigentlich die Wissenschaft zu Wort melden müssen. Aber bis auf wenige Ausnahmen blieb sie stumm, schlimmer noch, führende Repräsentanten ließen sich samt ihrer Institutionen für die Zwecke der Regierung einspannen. Matthias Kleiner, der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft; Jörg Hacker, der Präsident der Deutschen Akademie der Wissenschaften Leopoldina sowie Reinhard Hüttl, Präsident der Akademie der Technikwissenschaften acatech, fühlten sich geehrt, in die „Ethikkommission“ berufen zu werden. Kleiner übernahm zusammen mit Klaus Töpfer den Vorsitz in dem 17-köpfigen Gremium.
Dabei war dessen Zweck von Anfang an klar. Es sollte für das, was ohnehin beschlossene Sache war, noch die „ethischen“ Argumente liefern. So verkündete Töpfer schon vor Beginn der Beratungen am 27. März in einem Interview mit „Bild am Sonntag“: „Die Kernenergie bringt Risiken mit sich, die über das menschliche Maß hinausgreifen und die eine Herausforderung sogar für die Schöpfung darstellen“. Bemerkenswert an dieser Dämonisierung der Kernenergie ist, dass sie vom Exekutivdirektor des „Institute for Advanced Sustainability Studies“ (IASS) in Potsdam stammt. Das ist nämlich Töpfers neueste berufliche Position. Wissenschaftlicher Direktor des Instituts ist Carlo Rubbia, Physik-Nobelpreisträger von 1984, ein ausgewiesener Befürworter der Kernenergie. Am IASS forscht er allerdings nicht über Kern-, sondern über Solarenergie. Damit demonstriert er aufs Schönste, dass der in Deutschland so gern gepflegte Gegensatz zwischen erneuerbaren Energien und Atomenergie unsinnig ist. Für die zukünftige Energieversorgung wird beides gebraucht. Das war bis vor Fukushima auch die Position der deutschen Wissenschaft.
Vom Herbst 2008 bis Juni 2009 hatten Leopoldina, acatech und die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften für das Forschungsministerium ein „Konzept für ein integriertes Energieforschungsprogramm für Deutschland“ erarbeitet. Dafür wurde aller Sachverstand mobilisiert; beteiligt waren nicht weniger als 80 Wissenschaftler und elf Fachverbände. Der Eingangssatz der Studie lautet: „Die Energieforschung in Deutschland muss alle Optionen für die zukünftige Energieversorgung im Spannungsfeld von Klima- und Umweltschutz und Versorgungssicherheit zu wirtschaftlich vertretbaren Kosten bereitstellen“. Eine Seite weiter heißt es, dass trotz aller Bemühungen um mehr Energieeffizienz auch „innovative Technologien“ zur Bereitstellung von Energie dringend benötigt würden, und dazu gehöre neben der Nutzung der erneuerbaren Energien auch die Kernenergie.
Es geht dabei nicht um die heute laufenden Kraftwerke, an denen sich die deutsche Diskussion festbeisst, sondern um neuartige Reaktorkonzepte der sogenannten 4. Generation, an denen international bereits gearbeitet wird. Diese Reaktoren sind inhärent sicher, d. h. sie sind so konstruiert, das eine Kernschmelze, selbst bei Versagen aller Sicherheitssysteme, rein aus physikalischen Gründen nicht eintreten kann. Mit diesen sicheren Reaktoren, so hofften die Autoren des „Konzeptes“, könne sich im Laufe der Zeit auch in Deutschland eine Renaissance der Kernkraft für eine kostengünstige und CO2-freie Stromversorgung anbahnen. In einem Diskussionspapier der acatech von 2007 „Die Zukunft der Energieversorgung in Deutschland“ wurde ohne Umschweife für die Kernenergie plädiert, sie sei unbedingt in den Energiemix für die Zukunft einzubeziehen.
Am 21. März bat Forschungsministerin Annette Schavan die Leopoldina um eine aktuelle Stellungnahme zur Energiepolitik für die Ethik-Kommission. Verfasst wurde sie von den vier Autoren, die schon das „Konzept“ zu Papier gebracht hatten, und zwei weiteren Kollegen. Aus wissenschaftlicher Sicht war der Tenor der Antwort eigentlich eindeutig vorgegeben. Da sich durch die Ereignisse in Japan die Risiken der Kernenergie in Deutschland nicht verändert haben, gibt es keinen Grund, von den Aussagen des „Konzeptes“ abzurücken, und somit auch keine sachliche Rechtfertigung für einen beschleunigten Ausstieg.
Doch aus welchen Motiven auch immer, der Konflikt wurde gescheut und auf die Regierungslinie eingeschwenkt. In der „Ad-hoc-Stellungnahme – Energiepolitische und forschungspolitische Empfehlungen nach den Ereignissen in Fukushima“ wird die Kernenergie für die zukünftige Energieversorgung nicht mehr als notwendig erachtet. Ein Ausstieg in 10 Jahren sei unter bestimmten Randbedingungen möglich. Damit waren auch in der „Ethikkommission“ die Würfel gefallen. „Der Ausstieg ist nötig und wird empfohlen, um Risiken, die von der Kernkraft in Deutschland ausgehen, in Zukunft auszuschließen“, lautet der entscheidende Satz in dem 48 Seiten starken Papier „Deutschlands Energiewende – Ein Gemeinschaftswerk für die Zukunft. Das sei die „einhellige Meinung“ aller Mitglieder.
Vor zwei Jahren hatten Leopoldina, acatech und die Berlin-Brandenburgische Akademie der Regierung ins Gewissen geredet: „Demokratische Politik kann die Meinung der Wähler nicht ignorieren. Sie ist aber auch dafür verantwortlich, dass die Wähler Fakten zur Kenntnis nehmen. Sie hat eine Aufklärungsaufgabe, bei der die Wissenschaft sie unterstützen muss.“ Die Sätze stehen in einer Stellungnahme zur Grünen Gentechnik. Darin wird an die Bundesregierung appelliert, „die Anwendung der Grünen Gentechnik in Deutschland zu ermöglichen“, biete sie doch „ein noch unausgeschöpftes Potential für den ökologischen Landbau, für verbesserten Umweltschutz, die Erhaltung der Artenvielfalt und die Gesundheit“.
Nach dem Verhalten von Leopoldina und acatech bei der Energiewende stellt sich die Frage, wie eine Ad-hoc-Stellungnahme wohl aussehen würde, sollte die Kanzlerin eines Tages dem Beispiel des bayerischen Umweltministers Markus Söder folgen und aus wahltaktischen Gründen ein gentechnikfreies Deutschland anstreben.
Der Autor ist Wissenschaftsjournalist und schreibt vorwiegend für die Neue Zürcher Zeitung