David Harnasch / 17.07.2008 / 17:04 / 0 / Seite ausdrucken

Die heilige Johanna des freien Marktes

Die Kulturzeit auf 3sat war ein Fest gestern! Da ich mir zur Angewohnheit gemacht habe, diese Sendung oft, hart, und gerecht zu kritisieren, muss ich sie jetzt mal dringend loben. Der erste Beitrag (Video) handelt von der Inszenierung Brechts “Heiliger Johanna der Schlachthöfe” durch den medial redundanten Claus Peymann in Berlin. Wie nicht anders zu erwarten schwurbelt er im Interview munter los:

“‘Heute sagt man, es ist alles so kompliziert’, so Peymann,’ dass wir das gar nicht mehr verstehen können, die Stücke Brechts schon gar nicht, das ist ja alles von vorgestern. Ich finde das völligen Quatsch. Ich glaube, es sind die einfachen Wahrheiten. Es ist heute nur unsichtbarer geworden. Das sind nette Leute, die die Fäden in der Hand halten. Man kann mit denen Abendessen gehen, französischen Rotwein trinken und Austern schlürfen, aber der Verelendungsprozess in der Welt nimmt permanent zu. Irgendetwas ist da faul, und ich finde, da sind solche knallharten Unternehmungen wie die ‘Heilige Johanna der Schlachthöfe’ totales Aufklärungsmaterial.’ Ort der Handlung sind die Schlachthöfe Chicagos, wo sich die Fleischkönige bekriegen. Sie spekulieren, lassen Fleisch verrotten, um die Preise nach oben zu treiben. Arbeiter werden nach Belieben gefeuert. [...] Ein Brecht-Stück unserer Tage. ‘Die ‘Heilige Johanna’ wird in der so genannten Dritten Welt gespielt’, sagt Claus Peymann. ‘Brecht ist der einzige deutsche Dramatiker von Weltrang. Goethe und Schiller werden nicht gespielt in Johannesburg, Mexiko City und Rio de Janeiro, nicht Kleist, nicht Lessing: Brecht! Warum? Weil sie ihn da gebrauchen können, um über ihre eigene Verelendung aufzuweinen.’”

Während Peymann die Zeitlosigkeit der Thesen Brechts beschwört und Abendessen geht, französischen Rotwein trinkt und Austern schlürft mit denjenigen, die ihm seine Spielwiese mit harter Arbeit finanzieren, beschäftigt sich Dokumentarfilmer Peter Krieg mit den wirklichen Mechanismen der Güterverteilung. Über seinen Film “Septemberweizen” sagt die Kulturzeit:

“Er zeigt, wie an der Weizenbörse Chicagos die Preise diktiert werden, Nahrungsgüter als politische Waffe benutzt werden. Ein skrupelloses Geschäft mit dem Hunger. An den Techniken der kapitalen Vernichtung von Nahrung hat sich wenig geändert.”

Weiter geht es mit einem Zitat aus Brechts zeitlosem Stück, dem Peymann vermutlich zwischen Rotwein und Austern von Herzen zustimmen würde:

“Dieses ganze System ist eine Schaukel mit zwei Enden, die voneinander abhängen. Und die da oben sitzen oben nur, weil jene unten sitzen. Und nur solange jene unten sitzen. Und säßen nicht mehr oben, wenn jene heraufkämen, sodass sie wollen müssen.”

Aber jetzt kommt das völlig unerwartete, eine Wendung, auf die ich keinen Heller gesetzt hätte. O-Ton der gestrigen Sendung:

Das aber ist einem klugen Kopf wie Peter Krieg dann doch etwas zu simpel gedacht. “Die ist sehr aktuell”, sagt er, “aber auf eine ganz andere Art und Weise, die Brecht wahrscheinlich so nicht gedacht und unterschrieben hätte, denn wir haben heute die Situation, dass der größte Verursacher von Hunger nicht mehr da ist: der Sozialismus. Die größten Hungersnöte sind in der Sowjetunion und in China von den Kommunisten organisiert worden durch etwas, was man heute immer noch versucht, nämlich, den Markt vor allem mit Getreide und Nahrungsmitteln staatlich zu manipulieren.”

Versenkt.

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