Wie Henryk M. Broder einmal treffend feststellte, leben die Deutschen im Reich der Illusionen, sehen keinerlei Bedrohungen und meinen, Konflikte lediglich auspalavern zu müssen. Dies zu belegen tritt beispielsweise Heiko Maas mit seiner Verkündigung an, aus „dem Vermächtnis der Opfer“ erwachse „Deutschlands Verantwortung, für die unantastbare Würde des Menschen einzustehen – überall und jeden Tag.“ Doch obwohl diese Verantwortung angeblich nie endet, legt er sich nun für den Erhalt des sogenannten Atomdeals mit einem islamistischen Regime in Teheran ins Zeug, an dessen Baukränen nicht nur Homosexuelle baumeln, sondern zu dessen Ideologie essenziell gehört, den jüdischen, wiederholt als „Krebsgeschwür“ diffamierten Staat aus der künftigen islamischen Welt zu tilgen, mithin Auschwitz beziehungsweise etwas Ähnliches zu wiederholen.
Dennoch ist es recht unwahrscheinlich, dass Maas, der pathetisch verlautbarte, „wegen Auschwitz“ in die Politik gegangen zu sein, angesichts dieses offenkundigen Widerspruchs seine moralische Integrität gefährdet sieht. Die dazu nötige Selbstachtung fehlt auch Sigmar Gabriel, der bei seinem Iranbesuch 2015 auf den iranischen Präsidenten, Hassan Rohani, unterwürfig zuging, ohne dass dieser ihm einen Schritt entgegentreten musste, und ihm freudestrahlend die mörderische Hand schüttelte.
Mit den Mördern im „kritischen Dialog“ zu bleiben, statt ihnen entschieden und mit voll auszuschöpfender Autorität entgegenzutreten, scheint dort, wo der Ausstieg aus dem Atomdeal als „Anschlag“ (Andrea Nahles) aus dem bösen Amerika halluziniert wird, fast schon zum kategorischen Imperativ nach Adorno zu gehören:
„Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.“
Donald Trumps Kritische Theorie
Ob Maas diesen Worten im Laufe seines Studiums begegnete, weiß man leider nicht. Ebensowenig ist überliefert, ob Donald Trump in seinen studentischen Jahren neben ökonomischer Theorie auch die obiges Zitat enthaltende „Negative Dialektik“ büffelte. So oder so handelt der amerikanische Präsident in der Iranpolitik, wenngleich es die meisten Adepten Adornos nicht eingestehen würden, zweifelsfrei gemäß jenem Imperativ. Regelrecht antifaschistisch ließ er wissen:
„Heute möchte ich die Welt über unsere Bemühungen informieren, den Iran am Erlangen einer Atomwaffe zu hindern. Das iranische Regime ist der führende staatliche Sponsor des Terrors. Es exportiert gefährliche Raketen, schürt Konflikte im gesamten Nahen Osten und unterstützt terroristische Vertreter und Milizen wie die Hisbollah, die Hamas, die Taliban und die Al-Qaida. (...) Theoretisch sollte der sogenannte „Iran-Deal“ die Vereinigten Staaten und unsere Verbündeten vor dem Wahnsinn einer iranischen Atombombe schützen, einer Waffe, die nur das Überleben des iranischen Regimes sichern wird. Tatsächlich erlaubte das Abkommen dem Iran, die Anreicherung von Uran fortzusetzen und – im Laufe der Zeit – an den Rand einer nuklearen Anwendung zu gelangen. Das Abkommen hob lähmende Wirtschaftssanktionen gegen den Iran im Austausch für sehr schwache Grenzen der nuklearen Aktivitäten des Regimes auf – und setzte keine Grenzen für sein anderes bösartiges Verhalten, einschließlich seiner finsteren Aktivitäten in Syrien, im Jemen und an anderen Orten auf der ganzen Welt.“
Im Grunde praktiziert Trump, was Max Horkheimer 1970 anmahnte:
HORKHEIMER: Gegenwärtig verhält sich der Westen gegenüber den östlichen Staaten wie ehemals zu Hitler. Im Innern können sie grauenvolle Dinge begehen, ohne daß man sich im geringsten darum kümmerte. Wenn westliche Minister die östlichen sehen und begrüßen: freundliche Mienen und Reden, auch wenn der andere ein Massenmörder ist. Über die scheinbaren Ausnahmen, etwa Griechenland, will ich hier nicht diskutieren.
SPIEGEL: Sie verlangen moralische Politik?
HORKHEIMER: Ich halte es nicht für richtig, daß man sich zu terroristischen Staaten auch nur ähnlich verhält wie zu andern.
Unerträglich ist, dass hinter dem von Maas per Twitter verkündeten Plädoyer für ein Europa der Demokratie, des Rechtsstaats und der Menschenrechte nicht etwa der Zuspruch für Trumps Iranpolitik steht, die nicht ohne Grund von der israelischen Regierung befürwortet wird, sondern gerade ihre Ablehnung; ein Plädoyer wohlgemerkt, in dem er fordert, sich „mit denjenigen, die diese Werte teilen, [...] enger ab[zu]stimmen und denen die Stirn [zu] bieten, die rote Linien überschreiten“. Anstatt diesen Worten die Taten Trumps folgen zu lassen, unterläuft die EU die amerikanischen Sanktionen gegenüber dem Iran mit einem 50 Millionen Euro schweren Hilfspaket, das in Teilen Terror finanzieren wird.
Die Beschäftigung mit zeitgenössischen Stellungnahmen führender Sozialdemokraten zum Iran oder zur Türkei dürfte bei den meisten Menschen Ekel- und Abwehrreflexe auslösen, die bei Sendungen wie „Bauer sucht Frau“ entstehenden Affekten ähneln. Nur führen dort gewissenlose TV-Produzenten die Verarmten und Abgehängten vor, während besagte Politiker dies mit sich selbst und einem Wahlvolk machen, dem es an republikanischer Selbstachtung mangelt. Die wäre eine Folge gelungener Verwestlichung Deutschlands, die schon deshalb nicht abgeschlossen sein kann, weil ein emphatischer Begriff westlicher Zivilisation hierzulande nicht weit verbreitet ist. Ohne diesen verstehen sich viele Deutsche nicht als aufgeklärte Angehörige einer bürgerlichen Nation, deren Werte nicht floskelhaft, sondern praktisch zu verteidigen wären, und irren daher orientierungslos, doch stets mit moralisch stolz geschwellter Brust auf der Bühne des Weltgeschehens umher – weder mit Respekt vor sich selbst noch vor den anderen, man denke an das Foto von Gabriel und Rohani.
Eine Bevölkerung, die solch politisches Elend still erträgt
Anlässlich von Neonazi-Aufmärschen formiert sich umgehend ein besinnungsloses Kollektiv von Aufarbeitungsweltmeistern, die wiederum achselzuckend zu akzeptieren scheinen, dass der osmanische Sultan den Faschistengruß der Moslembrüder ganz unverhohlen auf deutschen Straßen zeigt und sich dort der nach Allah und Führer lechzende türkische Mob zusammenrottet. Von deutschen Politikern oder ihren zivilgesellschaftlich bewegten Untertanen, deren politisches und intellektuelles Niveau sich mit K.I.Z oder den Toten Hosen im unterirdischen Musikgeschmack spiegelt, wird man niemals Worte vernehmen, die als Ausdruck eigener reflektierter Würde zu einer klaren Feindbestimmung gelängen und denen Donald Trumps zum Iran-Deal entsprächen:
„Mit anderen Worten, zu dem Zeitpunkt, als die Vereinigten Staaten die größtmögliche Hebelwirkung hatten, gab dieses katastrophale Geschäft diesem Regime – und es ist ein Regime des großen Terrors – viele Milliarden Dollar, einige davon in bar – eine große Peinlichkeit für mich als Bürger und für alle Bürger der Vereinigten Staaten.“
Eine große Peinlichkeit für alle Bürger war der mit militärischen Ehren begleitete Empfang eines Autokraten, der dieser Nation „Nazi-Methoden“ vorwarf und ihren Bürgern bereits mit Gewalt gedroht hat. Eine große, nichts als Fremdscham auslösende Peinlichkeit ist Walter Steinmeier, der es 2017 noch als „eine Frage der Selbstachtung unseres Landes“ erachtete, gegenüber Erdogan „deutliche Haltsignale zu senden“, um denselben 2018 dann einzuladen. Eine große Peinlichkeit ist allerdings auch eine Bevölkerung, die solch politisches Elend still erträgt und dessen Protagonisten nicht kurzerhand zum Teufel jagt.
Unbewusst verfolgt von der letztlich unbegriffen gebliebenen NS-Zeit, sucht man diese mit einer Politik nach Friede-Freude-Eierkuchen-Art abzutragen und wählt daher im Zweifel stets den Weg des geringsten Widerstands, der geradewegs in den Schoß der Despoten führt. Nicht trotz, sondern wegen Auschwitz votiert Heiko Maas für den Iran-Deal; wegen Auschwitz rollt man Erdogan den Teppich aus – das ist die fassungslos machende Pathologie deutscher Politik.
Damit Auschwitz sich nicht widerhole, benötigt man Autorität
Damit Auschwitz sich nicht widerhole, benötigt man Autorität, notfalls auch militärische, die in Deutschland tendenziell unter Nazi-Verdacht steht. Dazu ein kleiner Exkurs in die Kunst: „Das Wesen des Nazismus liegt nicht darin, alle Menschen einer Obrigkeit unterzuordnen. Der Nazismus erkennt den Terminus ‚alle Menschen’ nicht an, weil nur Arier als Menschen gelten.“ Das sagt der Deutschlehrer Robert Zupan seiner rebellierenden Klasse im bemerkenswerten Film „Der Klassenfeind“ vom slowenischen Regisseur Rok Biček. Nach dem tragischen Selbstmord einer Schülerin nutzen die Schüler diesen für eine Rebellion gegen das Schulsystem im Allgemeinen und ihren strengen humanistischen Lehrer im Besonderen. Der hat mit der einfühlsamen Verständnispädagogik seiner Vorgängerin so gar nichts am Hut, mimt also nicht den herankumpelnden Sozialarbeiter, der jede den Schüler ernst nehmende Distanz vermissen lässt und dessen Einfühlungsvermögen in der Regel den prospektiven Verfolgern verpflichtet ist. Stattdessen sieht er den Zweck seines Berufes in der Wissensvermittlung und Anleitung zum selbstständigen Denken, das befähigen möge, erwachsen zu werden und den eigenen Neigungen und Fähigkeiten gemäße Entscheidungen zu treffen.
„Euer Aufstehen ist ein Ritual und zeigt mir, dass ihr keine Tiere seid. ... In meiner Klasse werdet ihr Menschen sein.“ Weil die Schüler solcherart disziplinierende Strenge, welche die Bedingung ihrer Zivilisierung von aufmüpfigen Triebbündeln zu selbstreflexiven Menschen ist, als Beleidigung ihrer Egos statt als unersetzliche Etappe auf dem Weg in ein erwachsenes Leben erfahren, werfen sie ihrem Lehrer „Nazi-Methoden“ vor – so wie Erdogan es gegenüber Deutschland oder auch Holland tat. Als aufmüpfiger Rebell würde er jede Grenze, ob territorial oder zivil, am liebsten überschreiten, was sich in permanenter Rebellion gegen die ihm feindlich erscheinende westliche Zivilisation ausdrückt, die er zu allererst im Zionismus identifiziert. Doch wird der Rebell seinerseits zum Vater:
„Erdogan will nicht nur die westlichen Staaten, die ihm ganz offensichtlich an starke Vaterfiguren erinnern, gegen die er sich lange vergeblich aufgelehnt hat, als ewige Bevormunder und respektlose Eindringlinge in die autochthone Sphäre türkischer – und irgendwann einmal allgemein islamischer – Selbstvergewisserung anprangern. Er ist auch nicht nur das gedemütigte Kind, das versucht zu rationalisieren, was ihm da dauernd an Erziehungsmaßnahmen widerfährt, und nach einem Grund zum hasserfüllten Widerspruch sucht. Erdogan hat es vermocht, und auch das trägt erheblich zu seinem Erfolg bei, sich seinerseits als die Vaterfigur ewig Gegängelter und Gedemütigter zu präsentieren, die willig anerkennen, dass sie erst mit dem neuen Vater den alten stürzen können. Er will die Welt erobern und beginnt damit daheim, indem er ein System bekämpft, dessen Personal bei jedem seiner Anhänger negative Reflexe auslöst: Es sind Lehrer, Offiziere, Beamte oder Krankenschwestern – also die Repräsentanten einer versunkenen Epoche, diejenigen auch, die heute noch ‚am Mittelmeer in ihren Villen sitzen’, wie Erdogan nicht müde wird zu betonen.“ (Justus Wertmüller: Verschwörungen gegen das Türkentum. Der Weg der Türkei von der säkularen Erziehungsdiktatur zur islamistischen Volksdemokratie, Berlin 2017, S. 178.)
Völkische Losungen kehren multikulturell protegiert wieder
Daheim beginnt Erdogan, in Deutschland führt seine Anhängerschaft sein Werk fort. Während gelingende Integration die durchaus schmerzhafte Herauslösung aus dem Herkunftskollektiv zur Bedingung hat, kehrt mit türkischen Islamisten die völkische Losung „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ multikulturell protegiert wieder. Wer sein Rassismusverständnis nicht dem zur herrschenden Ideologie avancierten Antirassismus, sondern Kritischer Theorie entnommen hat, könnte auch die Anhängerschaft Erdogans auf ihren Begriff bringen:
„Rasse ist nicht, wie die Völkischen es wollen, unmittelbar das naturhaft Besondere. Vielmehr ist sie die Reduktion aufs Naturhafte, auf bloße Gewalt, die verstockte Partikularität, die im Bestehenden gerade das Allgemeine ist. Rasse heute ist die Selbstbehauptung des bürgerlichen Individuums, integriert im barbarischen Kollektiv.“ (Adorno/Horkheimer)
Ihrem „reis“ (Führer) folgend, integrieren sich erschreckend viele Deutschtürken in genau diese repressive Gemeinschaft: „Hört ihr nicht ihre Schritte“, hieß es auf einem Transparent türkischer Demonstrantinnen. „Sie kommen, die Kämpfer der Gerechtigkeit. Im Namen des Barmherzigen, die TÜRKEN kommen“. Unmissverständlich wird hier gedroht, auf der Basis rassischer Identifikation den islamistischen Kampf gegen die Mehrheitsgesellschaft zu führen. Die verurteilt derartige Zumutungen nicht, weil sie in Ermangelung eines Begriffs ihrer selbst gegen den antizipierten Vorwurf der „Nazi-Methoden“ kaum etwas einzuwenden wüsste.
Weil sie selbst schlecht erzogen sind
Ästhetisch erfahrbar wäre in „Der Klassenfeind“ der zwischen bürgerlicher und faschistischer Autorität bestehende Unterschied, der einer ums Ganze ist und von den Deutschen womöglich als Folge der antiautoritären Achtundsechziger nicht zu erkennen vermocht wird. Weil sie selbst schlecht erzogen sind, scheitern sie an der Integration fremder Menschen, denen sie westliche Verhaltensweisen nicht aufnötigen wollen; weil die Vertreter des deutschen bürgerlichen Staats, „dessen Installation einmal die ganz praktische Antwort des Westens auf den Nationalsozialismus war“ (Magnus Klaue in der Bahamas Nr. 79), sich mit der Rolle der Autorität nicht identifizieren können, sondern lieber mit Rebellen wie Erdogan oder den Mullahs im Klassenverbund der EU gegen Trump und Netanjahu aufmucken, müssen sie an der Integration fremder Menschen scheitern und kooperieren nur folgerichtig mit den islamischen Akteuren für Desintegration und Parallelgesellschaft.
Unfähig, sich und anderen jene Grenzen aufzuerlegen, die ein zivilisiertes und freiheitliches Leben überhaupt erst ermöglichen, erblicken sie in Trump, der den Iran in die Schranken weist, oder der Israeli Defense Force, die die palästinensisch-islamische Konterrevolution mit der gebotenen Härte zurückschlägt, keine Autoritäten bürgerlicher Zivilität, sondern ihnen feindlich gesinnte Aggressoren. Ein objektives Wahrheitsmoment hat dies nur insofern, als man die der eigenen Jämmerlichkeit geschuldete und von diesen genuin westlichen Nationen zurecht ausgehende Verachtung ahnt – ohne sie freilich zu begreifen.
Wer sich, wie die Deutschen, in unendlicher Identitätssuche verliert, statt ein gefestigtes westlich-republikanisches Selbstverständnis zu entwickeln, der kann nicht artikulieren, wer erwünscht ist und wer nicht, welches Verhalten toleriert und welches sanktioniert gehört. So jemand landet schließlich nicht nur beim Iran-Deal oder beim Staatsbankett mit einem Despoten, sondern gefährdet zuvorderst diejenigen, die wie die aus Deutschland in den Irak geflohene Jesidin nur in den autoritär durchsetzbaren Grenzen der Zivilisation Zuflucht finden könnten.