Gastautor / 28.10.2010 / 11:21 / 0 / Seite ausdrucken

Die Diskursraumpfleger

Reinhard Mohr

Natur ist überall schön, sagt Loriot, der Philosoph der Deutschen. Das gilt erst recht für den Englischen Garten in München. Anfang Oktober sprang dort, am Ufer des berühmten Eisbachs, ein wohlgeformter Mann durchs herbstliche Gras. Ortsüblich nackt, versteht sich. Auf der anderen Seite der reißenden Fluten, denen er entstieg, standen zwei schwarz gekleidete Frauen - eine davon in einer burkaartigen Vollverschleierung - und betrachteten kichernd die gleichsam transzendente Erscheinung einer anderen Welt, philosophisch gesprochen: das Ding an sich. Allah sei Dank war der Sehschlitz gerade groß genug, um den flagranten Sündenfall des dekadenten Westens mit der iPhone-Kamera detailliert festzuhalten.

Symbolisiert dieses Aufeinandertreffen nun jene Multikulti-Gesellschaft, von der Hans-Christian Ströbele, der Catweazle der Grünen, immer noch träumt? Oder handelt es sich um einen “Clash of Civilizations” à la Samuel Huntington? Und: Wer stört hier eigentlich die öffentliche Ordnung - der komplett nackte Mann oder die vollverschleierte Muslima, die ihn fotografiert? Gilt im Zweifel die Scharia, das Grundgesetz oder die kommunale Grünflächenverordnung? In den Worten von Bundespräsident Christian Wulff: Gehört der nackte Mann zu Deutschland oder die Frau in der Burka? Womöglich beide? Dabei ist die Antwort ganz einfach: Es handelt sich um eine geniale Szene von Loriot, dem großen deutschen Komiker. Dass sie zugleich authentisch ist, selbst erlebt, vereint Komik und Philosophie fast wie im richtigen Leben.

Aber hier beginnt das Problem: Was ist das richtige Leben, was ist die Wirklichkeit? Immanuel Kant hat es gewusst: Es ist die “reine” Vernunft, die uns die Wirklichkeit erkennen lässt, unsere Fähigkeit zu beobachten, zu sehen und zu verstehen. Bei der politischen Klasse der Bundesrepublik aber scheint dieses Bewusstsein, das Vermögen von Anschauung und Verstand, eher schwach ausgebildet. Das beginnt schon damit, dass es an der Fähigkeit zum Hinsehen mangelt. Man nimmt vor allem wahr, was ins eigene Weltbild passt, in den Rhythmus der eigenen Lebens- und Arbeitsabläufe. Dazu kommt der Gruppendruck, die Psychodynamik der geistig-emotionalen Heimat, ob im Verband oder in der Partei. Das Milieu prägt die Sehschwäche, und sie ist wiederum Voraussetzung für Aufstieg und Karriere.

Längst schon haben wir uns daran gewöhnt, dass kein Spitzenpolitiker mehr die Frage beantwortet, die ihm gestellt wird - schon gar nicht eine, die ihn in Verlegenheit bringen könnte. Er beantwortet prinzipiell nur jene Fragen, die er sich selbst stellt. Und da ist vieles sowieso keine Frage mehr. Es geht nur noch um die Suche nach einem Konsens im Koalitionsausschuss und den “Abbau von strukturellen Defiziten” in der Ganztageskinderbetreuung. Währenddessen thematisiert der “Integrationsgipfel” die urbanen Problemzonen “bildungsferner Schichten” so lange, bis er im Tal seiner eigenen Inkompetenz angelangt ist.

Kein Missverständnis: Demokratie heißt Kompromiss, aber vor ihm steht die offene Auseinandersetzung, der Widerstreit der Argumente, vor allem aber die Freiheit, ohne Angst seine Meinung sagen zu dürfen, laut und deutlich, gern auch scharf, pointiert, polemisch und sarkastisch. Die Möglichkeit, sich zu irren, eingeschlossen. Sogar Widerruf und Entschuldigung für allzu harsche Worte sind erlaubt. Wer es nicht glaubt, werfe einen Blick ins Grundgesetz und in die demokratische Geschichte der Bundesrepublik. Jenseits religiöser Glaubensbekenntnisse, die jedem gestattet seien, sofern er sie keinem anderen aufdrängt, gibt es keinen Katechismus, keine Sprech- und Denkverbote.

Im Zweifel und zuallererst gehört die Freiheit zu Deutschland. Die Bürger draußen im Lande vor ihren Fernsehgeräten freilich können das nicht immer glauben. Vor allem dann nicht, wenn sie ihren Spitzenpolitikern zuhören, ob im “Bericht aus Berlin” oder den “Tagesthemen”, bei “Beckmann” oder all den anderen medialen Selbstdarstellungsbühnen der politischen Klasse. Da scheint es doch einen unsichtbaren Wächterrat zu geben, der über die Diskursregeln herrscht: eine eigentümliche Übereinkunft über Grenzen des Zulässigen und Sagbaren, die selbst noch bei “Markus Lanz” im ZDF gilt.

Eine ganze Generation von Politikern im mittleren Alter, denen sich gerade die Jüngeren allzu reibungslos anschließen, hat sich inzwischen einen abgeschmirgelten Politsprech zu eigen gemacht, der noch etwas anderes und mehr ist als das übliche Politiker- und Bürokratendeutsch. Über Parteigrenzen hinweg hat sich die Semantik der abgeschlossenen Sonntagsrede auch in jenen rhetorischen Momenten ausgebreitet, die angeblich dem harten Meinungsstreit dienen. Wer über Jahre schon aus beruflichen Gründen die politischen Talkshows verfolgen musste - von “Anne Will” bis “Hart aber fair” -, dem wurde nur zu oft ganz blümerant zumute, zuweilen gar schwindlig und manchmal übel. Denn stets galt: Das Gesetz des Diskursdschungels befolgt der am effektivsten, der möglichst viele Nebelkerzen wirft. Sprachregelungen statt Sprache, Schwurbelei statt Klarheit, Tricks statt Theorie: Eine einzige ohrenbetäubende Wortwatte, sieht man von den PvDs ab, Provokateuren vom Dienst wie Arnulf Baring und Roger Köppel.

Anders als vor ein paar Jahrzehnten, als die überwiegend links geprägte Hegemonie des Diskurses noch an eine ideologische, meist auch politisch dezidierte - und somit immerhin angreifbare - Überzeugung gebunden war, besteht die aktuelle Diskurshoheit in einer politisch neutralen, geradezu aseptischen Vermeidung jeder offenen Diskussion. Sie präsentiert sich gerade nicht kämpferisch, sturmfest und erdverwachsen, keineswegs optimistisch und zukunftsorientiert, sondern ängstlich und defensiv und fast neurotisch darauf bedacht, die Regeln einer eingebildeten politischen Korrektheit einzuhalten.

Umso hemmungsloser wird gegen jene gepestet, die gegen den Kodex verstoßen. Motto: Opportunisten aller Bundesländer, vereinigt euch! Hier könnt ihr euch austoben! Der alte linke Satz, dass es schon revolutionär sei zu sagen, was ist, wird nun zur “rechtspopulistischen” Provokation. Und immer ist irgendwo eine neue Studie zur Hand, die vor einer dramatischen Zunahme rechtsradikaler Stimmungen, gar einem “Extremismus der Mitte” warnt.

Dabei ist die Wirklichkeit selbst jener Feind, der von den Diskursraumpflegern mit ihren flauschigen Redeschaumteppichen gebannt werden soll. Selbstverständlich wird die Definition dessen, was Wirklichkeit und was Wahrheit sei, immer umstritten bleiben. Aber die politischen wie medialen Diskurswächter wollen den Streit gleich ganz unterbinden - jedenfalls dann, wenn er ihnen nicht nützt, sondern schadet. Dabei verbindet sich die notorische Vermeidungs- und Beschwichtigungsrhetorik mit der Unfähigkeit, die Grundwerte von Aufklärung, Zivilgesellschaft und Menschenrechten klar und selbstbewusst zu vertreten.

Wenn es etwa darum geht, die Werte des Westens beim Namen zu nennen, finden eher aufgeklärte Muslime die richtigen Worte als die alteingesessenen Bewohner des christlichen Abendlandes. So wie Salman Rushdie, der nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 eine kleine Liste dessen zusammenstellte, was die Freiheit ausmacht, die wir meinen: “Küssen in der Öffentlichkeit, Schinken-Sandwiches, öffentlicher Streit, scharfe Klamotten, Literatur, Großzügigkeit, Wasser, eine gerechte Verteilung der Ressourcen der Welt, Kino, Musik, Gedankenfreiheit, Schönheit, Liebe.” Längst vergessen ist bei den professionellen Schönrednern das öffentliche Glaubensbekenntnis des berüchtigten “Kalifen von Köln”: “Islam und Demokratie werden niemals miteinander vereinbar sein.” Lieber appellieren deutsche Politiker - wie der SPD-Bundestagsabgeordnete Dieter Wiefelspütz - an vermeintliche “Menschenrechtsfundamentalisten” des Westens und fordern mannhaft: “Der Islam braucht eine faire Chance in Deutschland.”

Es ist diese peinliche Kultur des notorischen deutschen Selbstverdachts, die schon die unbestrittene Religionsfreiheit der Muslime bedroht sieht, wenn allzu oft von Scharia, Machismo, Ehrenmorden, Kopftuch und dem reaktionären Frauenbild des Koran die Rede ist. Dabei kommt es zu regelrechten Übersprungshandlungen. Wenn Klaus Wowereit, Berlins Regierender Bürgermeister, mit dem nicht mehr ganz taufrischen Phänomen türkisch-arabischer Deutschenfeindlichkeit auf Straßen und Schulhöfen konfrontiert wird, verweist er zunächst auf typisch “pubertäre” Verhaltensweisen, die es überall gebe, um dann auf jene viel schlimmere “Schwulenfeindlichkeit” zu kommen, deren Opfer er selbst sei. Dass gerade sexuell hochgradig verklemmte türkische und arabische Jugendliche hier an vorderster Front mitmischen, erwähnt er nicht.

“Wir haben eine ostdeutsche Kanzlerin, einen Außenminister, der soeben seinen Lebensgefährten geheiratet hat, einen jugendlichen Gesundheitsminister vietnamesischer Herkunft, einen Bundespräsidenten mit ,Patchworkfamilie’: Noch nie war das Personal, das unseren politisch-öffentlichen Diskurs bestimmt, ,bunter’ als heute”, wundert sich die Autorin Thea Dorn. “Und noch nie wirkte es so farblos, gehemmt und uniform.“Doch wenn nicht alles täuscht, könnte sich daran womöglich bald etwas ändern. Angestoßen durch einen inzwischen ausgeschiedenen Bundesbanker und Noch-Sozialdemokraten, hat der farblose Schaumteppich erhebliche Risse bekommen. Es tut sich etwas, dies- und jenseits des Eisbachs.

© Reinhard Mohr und FAS

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Gastautor / 24.03.2024 / 10:00 / 48

Kunterbunt in die Katastrophe

Von Florian Friedman. So ziellos er auch mittlerweile durch die Geschichte stolpert, auf eine Gewissheit kann der Westen sich noch einigen: Unser aller Erlösung liegt…/ mehr

Gastautor / 18.02.2024 / 10:00 / 30

Die rituale Demokratie

Von Florian Friedman. Letzter Check: Die Kokosnussschalen sitzen perfekt auf den Ohren, die Landebahn erstrahlt unter Fackeln, als wäre es Tag – alle Antennen gen…/ mehr

Gastautor / 07.01.2024 / 11:00 / 18

Was hat das ultraorthodoxe Judentum mit Greta zu tun?

Von Sandro Serafin. Gehen Sie einfach mit dem Publizisten Tuvia Tenenbom auf eine kleine Reise in die Welt der Gottesfürchtigen und nähern sich Schritt für…/ mehr

Gastautor / 17.12.2023 / 11:00 / 18

Ist auch der PEN Berlin eine Bratwurstbude?

Von Thomas Schmid. Am vergangenen Wochenende trafen sich die Mitglieder des im Sommer 2022 gegründeten PEN Berlin zu ihrem ersten Jahreskongress im Festsaal Kreuzberg. Die…/ mehr

Gastautor / 17.10.2023 / 11:00 / 20

Wokes „Voice“-Referendum: Warum die Australier Nein sagten

Von Hans Peter Dietz. In Australien ist ein Referendum, das die Bildung einer nicht gewählten Nebenregierung aus Ureinwohnern ("Indigenous Voice to Government") vorsah, an einer…/ mehr

Gastautor / 07.08.2023 / 14:00 / 80

Brennpunkt-Schulen: Ein Lehrer klagt an

Von Rafael Castro. Als Berliner Lehrer weiß ich, dass die Missstände in der Integration weit mehr von „biodeutschen“ Verblendungen verursacht werden als vom Koran. Deutsche Tugenden…/ mehr

Gastautor / 08.06.2023 / 14:00 / 14

Arte zeigt Mut zur (Fakten-)Lücke

Von Artur Abramovych. Eine Arte-Doku will uns ein Bild der Westbank vermitteln, besser: Israel im „Griff der Rechten“ präsentieren. Die Methode an einem Beispiel: Es…/ mehr

Gastautor / 29.05.2023 / 14:00 / 24

Den Talmud studieren und Top-Programmierer werden

Von Michael Selutin. Profitiert das erfolgreiche High-Tech-Land Israel von der jüdischen Tradition des Talmud-Studierens? Ist im Talmudisten der Super-Programmierer angelegt? Diesen spannenden Fragen geht unser Autor aus…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com