Ehe ich zu Griechenland komme, möchte ich an einen der größten Irrtümer der Gegenwartsliteratur erinnern: Peter Handke lag völlig daneben, als er einer seiner Erzählungen die Überschrift gab: „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter.“ Wenn einer beim Elfmeter keine Angst haben muss, dann ist es der Torwart. Angst hat einzig und allein der Elfmeterschütze. Was das mit Griechenland zu tun hat, sag ich gleich.
Bleiben wir zunächst beim Elfmeter. Was ist das Schlimmste, das dem Torwart passieren kann? Dass er den Elfer nicht hält. Dann wird man sagen: So ist das nun mal beim Elfmeter. Die sind schwer zu halten. Keiner macht dem Tormann einen Vorwurf. Hält er aber den Elfmeter, ist er ein Held. Man klopft ihm auf die Schulter und sagt: Toll gemacht. Also: Nicht schlimm oder Held. Wenn das keine Win-Win-Situation ist. Handke hätte besser geschrieben: „Die Freude des Tormanns auf den Elfmeter.“
Der Elfmeterschütze hingegen hat weiche Knie, wenn er anläuft. Er weiß: Ein Elfer hat reinzugehen. Basta. Schafft er es tatsächlich, den Ball vom Elfmeterpunkt ins Netz zu bringen, gibt’s ein kurzes Aufatmen, ein noch kürzeres Lob und das war’s dann auch. Aufgabe erwartungsgemäß erledigt. Versaut er aber den Elfmeter, indem er ihn an die Latte knallt oder daneben haut oder in die Luft hebt oder dem Torwart in die Arme schießt, dann ist der Schütze der Depp. Er wirft sich fluchend oder gar heulend auf den Rasen und seine Mitspieler sagen nichts und das ist schlimmer als würden sie meckern. Der Schütze ist also entweder nichts Besonderes oder der Depp. Eine klare Angstsituation. Handke hätte also besser geschrieben: „Die Angst des Schützen vor dem Elfmeter.“
Weshalb diese zutiefst fußballphilosophischen Ausführungen? Ach ja. Wegen Griechenland.
Die Griechen sind der angstfreie Torwart und die Deutschen sind die angstgetriebenen Schützen. Denn im politischen Profisport hat nicht der Schuldner die Angst, die er vordergründig haben müsste, sondern der Gläubiger ist der Angstgeplagte. Was kann dem Schuldner schon passieren. Dass er pleite geht und verarmt? Viel ärmer als die Griechen heute schon sind, können sie nicht mehr werden. Müssen sie sich eventuell eine neue (alte) Währung suchen? Das ist vor der Pleite unangenehm, aber nach der Pleite wurscht, wenn nicht gar eine Erleichterung. Müssen sie in den nächsten Jahren von Oliven, Harzwein und Touristen leben? Das ist keine große Veränderung gegenüber dem jetzigen Leben. Eine klassische Wir-haben-nicht-mehr-viel-zu-verlieren-Situation. Und die ist einer Win-win-Situation nicht unähnlich.
Die Gläubiger aber, die sich am längeren Hebel wähnen, sind in ihr Hinterteil gekniffen. Entweder sie helfen den Griechen nicht mehr. Dann bekommen sie ihr Geld bestimmt nicht zurück. Oder sie helfen den Griechen. Und dann bekommen sie ihr Geld auch nicht zurück. Und dann ist da noch die Angst, dass die anderen Schuldner ebenfalls zur griechischen Eröffnung in diesem Spiel greifen. Eine klassische Lose-Lose-Situation. So muss sich der Elfmeter-Schütze fühlen, wenn er den Ball am Tor vorbeisegeln sieht.
Im Privatleben soll es gelegentlich vorkommen, dass der Gläubiger dem Schuldner einen großen, breitschultrigen und muskulösen Eintreiber ins Haus schickt. Peer Steinbrück würde es vielleicht mit der Kavallerie versuchen. Aber im normalen politischen Leben sind solche Mittel tabu. Oder ist Angela Merkel nach Moskau gereist, um den Griechen den muskulösen Wladimir auf den Hals zu schicken? Ich glaube nicht.
Nicht vergessen: Vor gut zehn Jahren waren die Griechen Fußball-Europameister. Mal sehen, wer dieses neue europäische Spiel gewinnt. Es ist nicht auszuschließen, dass es nur Verlierer gibt.