„Ihr werdet zehn von uns töten, wir werden einen von euch töten, aber schließlich werdet ihr zuerst aufgeben!" 1946 vernimmt Paris diese Botschaft des Vietminh-Führers Ho Chi Minh (1890-1969). Doch man hört nicht auf den Mann. Noch in der Entscheidungsschlacht von Dien Bien Phu im Jahr 1954 erleiden die Rebellen dreimal so hohe Verluste wie Parachutistes und Fremdenlegionäre mit Altkadern der Waffen-SS. An der westlichen Niederlage ändert das nichts. Frankreichs Kriegsindex steht damals zwar bei passablen 1.6 (heute 1). Auf 1.000 ältere Männer im Alter von 55 bis 59 Jahren folgen 1.600 Jünglinge zwischen 15 und 19 Jahren, die den Lebenskampf aufnehmen müssen. Auf vietnamesischer Seite aber sind es fast 3.000. Allerdings wird so etwas seinerzeit nicht berechnet.
Entsprechend unvorbereitet übernimmt Amerika 1955 die französischen Stellungen. Angesichts der immer nur wachsenden vietnamesischen Siegeszuversicht formuliert der legendäre Kriegsberichterstatter Edward Murrow (1906-1965): "Jeder, der von der Situation nicht verwirrt ist, hat keine Ahnung von der Lage.“ Als Washington – nach fast einer Million Toten (davon 95 Prozent beim Gegner) – 1975 sieglos abrückt, steht Vietnams Kriegsindex über 4, der amerikanische hingegen unter 2. Überzählige Söhne, die sich mit der Ehre des Heldentods zufrieden geben, wachsen im Westen nicht mehr heran. Bei den Unterworfenen aber halten hohe Geburtenraten den Heroismus am Leben. Die Studentenbewegungen mit ihren Straßenchören „Ho, Ho, Ho Chi Minh, eins, zwei drei, viele Vietnams“ begreifen das so wenig wie die Politiker und Militärs. Sie spiegeln die Lage immerhin dadurch, dass von ihnen nur verschwindende Minderheiten mit dem Schießen beginnen. Jetzt erfüllen sich ihre Sehnsuchtsgesänge und doch bleibt selbst bei den Radikalsten der Jubel aus.
In den Kolonialkriegen der 1960er und 1970er Jahre wiederholt sich das Fatum von Vietnam fast eins zu eins. Die Afrikaner verfügen über einen Kriegsindex, der drei- bis viermal so hoch liegt wie in Belgien, Frankreich, Großbritannien oder Portugal. Bei drei bis vier Brüdern pro Familie kann auch nach heftigen Verlusten weitergekämpft werden. Üppige Geburtenraten halten die Sterberaten souverän in Schach. Jeder Gefallene aus den Herrennationen hingegen stirbt – statistisch – als einziger Sohn seiner Mutter. Die Rebellenführer hätten Ho Chi Minh, die westlichen Experten Edward Murrow wörtlich übernehmen können. Der Westen verliert alle Kriege.
Um ein paar hundert Soldaten betteln
Ist 2019 die Ratlosigkeit gewichen? Die typischen Jubiläumsrituale unter europäischen Führern sprechen dagegen. Bewegt danken sie ihrem Friedensbund in der Europäischen Union dafür, dass sie nicht mehr mit millionenstarken Armeen übereinander herfallen. Dass es die längst nicht mehr gibt, merken sie tags drauf, wenn sie untereinander um ein paar hundert Soldaten für den Einsatz in Mali, Niger oder Burkina Faso betteln müssen.
Man werde allein Mali – mit jährlich 65 Millionen Euro – unter dem Schutz der Bundeswehr „schrittweise ertüchtigen. […] Afrika braucht einen selbsttragenden Aufschwung“. Dass selbst etwa Merkels Schützling Griechenland nach 350 Milliarden Euro seit 2010 von einem solchen Zustand nur träumen kann, wird taktvoll verschwiegen. Demografisch entspricht Subsahara-Afrika hundert Griechenlands.
Skeptisch bleibt denn auch ein erprobter Kommandeur aus dem 7.000 Mann-Kontingent der Amerikaner (Kriegsindex 1) in der MINUSMA Allianz (United Nations Multidimensional Integrated Stabilization Mission in Mali): „Bemühungen, den Dschihadismus durch Training einheimischer Truppen und das Töten aufständischer Führer einzudämmen, funktionieren offensichtlich nicht: Bauen wir nur Sandburgen bei Ebbe?" Was wäre dann die Flut?
Die drei genannten Sahel-Ländern springen zwischen 1950 und heute von zehn auf über 60 Millionen Einwohner und wollen 2050 bei 130 Millionen stehen. Nimmt man Tschad und Kamerun als ebenfalls terrorbefallene Exkolonien Frankreichs hinzu, geht es von heute gut 100 auf 215 Millionen Betroffene im Jahr 2050. Ihr aktueller Kriegsindex zwischen 6 und 7 liegt fast zehnmal so hoch wie in der Bundesrepublik (0.65) oder in Italien (0.70), das mit einem Kontingent von 470 Bewaffneten 1.100 Deutschen und 4.500 Franzosen beisteht. Auch 2050 wird der Sahel-Kriegsindex rund siebenmal höher liegen als zwischen Nordsee und Sizilien.
Die Bundesregierung wirkt wie ein Schwejk
Berlin will trotzdem weiterkämpfen. Es stellt sich damit in die Tradition der Schröder-Fischer-Regierung, die 2001 Truppen nach Afghanistan schickt, wo schon der Warschauer Pakt bis 1989 rund 13.000 Mann verliert. Die Bundeswehr ist immer noch vor Ort, obwohl das Land am Hindukusch einen Kriegsindex oberhalb von 6 stetig durchhält und seit Abzug der Russen die Zahl seiner Kampffähigen zwischen 15 und 29 Jahren von 1,6 auf knapp 6 Millionen steigert.
Einerseits wirkt die Bundesregierung wie ein Schwejk mit seinem immer fröhlichen „den nächsten Krieg gewinnen wir “. Denn wie schon 2001 bewilligt der Bundestag auch die Sahel-Einsätze ohne Kenntnis der stetig schlechter werdenden demografischen Kräfteverhältnisse. Andererseits scheint die – ohne einschlägige Informationen losgeschickte – Kanzlerin die Aussichtslosigkeit auch des zweiten noch aktiven deutschen Krieges irgendwie zu spüren. Sie fürchtet ihn als bisher „gefährlichste Mission“ für sich und ihre Nachfolge. Recht hat sie!
Gunnar Heinsohn (*1943) lehrt seit 2010 Kriegsdemographie am NATO Defense College (NDC) in Rom. In Stavanger hat er 2018 die Grundsatzrede zum 15. Geburtstag des Joint Warfare Center (JWC) der NATO gehalten.
Zahlen siehe auch in: G. Heinsohn, „Security implications of changing demographic trends”, NATO Defense College (NDC/Rom), 3. Juli 2019