Dieser Betrachtung zur näher rückenden Wahl des amerikanischen Präsidenten stelle ich zwei Weisheiten des deutschen Volksmundes voraus. Erstens: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Zweitens: Der Wunsch ist oft der Vater des Gedanken. Mit Blick auf die US-Wahl soll hier zuerst einmal der Wunsch betrachtet werden, der so oft der Vater des Gedanken ist. Auf die vorsichtige Mutter und den einen oder anderen Volksmund komme ich zurück.
Der väterliche Wunsch aller innigen Trump-Gegner ist einfach formuliert: Donald Trump wird dank Corona die Wiederwahl ins Weiße Haus verpassen. Anders ausgedrückt: Corona schlägt Donald. Und da sich in Deutschland die innigsten Trump-Gegner aufhalten, ist dieser Wunsch hierzulande besonders weit verbreitet. Aber wie realistisch ist er?
Es gibt jede Menge Umfragen, die den republikanischen Präsidenten tatsächlich im Sinkflug sehen und den Demokraten Joe Biden im Steigflug. Trump selber scheint von dieser Flugangst angesteckt zu sein. Das ist wohl ein Grund, warum er sich in der Corona-Krise nach anfänglicher Schläfrigkeit inzwischen aufgeschreckt wie ein ganzer Hühnerhof verhält. Grund genug hat er ja. Seine Siegessicherheit ist dahin, seit Corona den bemerkenswerten Aufschwung der amerikanischen Wirtschaft gestoppt und in eine Rezession umgewandelt hat. Konnte Trump früher auf James Carvilles berühmte, für Bill Clinton wahlentscheidende Aussage „it's the economy, stupid“ bauen, so muss er sich jetzt mit der Variante „it's Corona, stupid“ herumschlagen.
Trumps Abstiegssorgen sind die Wunscherfüllung der meisten Deutschen und vieler Amerikaner. Aber wie vieler Amerikaner? Das britische Magazin The Economist hat jetzt eine der gründlichsten Analysen der amerikanischen Wählerschaft überhaupt veröffentlicht. Nach einer „MRP“ genannten Methode hat das Magazin nicht weniger als 480 Wählertypen in Kombination mit neun verschiedenen demografischen und geografischen Faktoren unter die Lupe nehmen lassen. Ein engeres Netz lässt sich kaum spannen. Und die eindeutigste Vorhersage, die das Magazin aus diesem Netz gefischt hat: Joe Biden schlägt Hillary Clinton. Ein klarer Wahlsieg also, wenn seine Parteifreundin und ehemalige Präsidentschaftskandidatin seine Gegnerin wäre.
Diese Aussage ist nicht ganz so absurd wie sie klingt. Schließlich hat Hillary Clinton vor gut drei Jahren nur knapp verloren. Sie hat insgesamt sogar eine Mehrheit der Stimmen erzielt, aber diese Mehrheit reichte nicht, um in der entscheidenden Zwischenstation, dem Wahlpersonengremium zu siegen. Joe Biden könnte es besser ergehen, weil er bei seinen (und ihren) Hautfarbgenossen, also bei den weißen Amerikanern besser ankommt als damals seine Parteifreundin. Das ist wichtig, weil das weiße Amerika Donald Trumps Hauptwähler-Reservoir ist. In dieses Reservoir greift Biden energischer hinein als seine Vorgängerin. Dass er bei schwarzen und jungen Amerikanern etwas schlechter ankommt als Hillary Clinton, fällt laut dieser Analyse nicht weiter ins Gewicht, weil beide, die Jungen und die Schwarzen weniger zur Wahl gehen.
Aber wird es reichen für Barrack Obamas Vize-Präsidenten? Das Wahlmänner-Gremium (um es bei seinem klassischen Namen zu nennen) bleibt ein Unsicherheitsfaktor, weil es diejenigen Staaten stärker repräsentiert, in denen Trumps Republikaner traditionell stark sind. Bidens Chancen stehen nicht schlecht, aber sein Vorsprung ist trotz Corona unterm Strich weniger sicher als ihm lieb sein kann und als man in dieser Trump-Krise meinen möchte. Trumps hellhäutige Basis im kontinentalen Amerika, das die Küstenbewohner abfällig als Überflugzone bezeichnen, ist (noch?) vergleichsweise stabil.
Ganz abgesehen davon, dass es bis zur Wahl noch ein halbes Jahr hin ist. Und ein halbes Jahr sind in der Politik bekanntlich eine Ewigkeit. Dass sich die Wirtschaft bis zum 3. November so weit erholt, um Trump wieder mit diesem Pfund wuchern zu lassen, ist allerdings nahezu ausgeschlossen. Eher dürfte das Gegenteil der Fall sein: Dass die Rezession ihren Tiefpunkt erreicht und die Schlangen der Arbeitslosen katastrophale Längen annehmen.
Andererseits könnten ein Impfstoff oder ein wirksames Medikament, sollte das eine oder das andere rechtzeitig gefunden werden, die Stimmung wieder aufhellen. Und da das Rennen trotz Corona immer noch recht eng ist, können kleine Stimmungsschwankungen Entscheidendes bewirken. Darum sind Meldungen von einem gesicherten politischen Ableben Donald Trumps verfrüht, um eine Formulierung Mark Twains zu variieren, der seinerzeit seinen medial gemeldeten Tod deutlich überlebt hat.
Hier noch ein Gedanke: Schön ist es ja nicht, dass sich die Hoffnungen der Trump-Gegner auf ein Virus und auf eine Rezession stützen, zumal beide nicht auf Amerika beschränkt sind sondern weltweit für Depressionen sorgen. Aber so ist sie nun mal, die Politik. Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. (Noch so ein goldrichtiger Volksmund.)
Ja, der Wunsch, dass der 77 Jahre alte weiße und männliche Demokrat den nur vier Jahre jüngeren weißen und männlichen Republikaner ablöst, ist der Vater vieler Analysen, Umfrageergebnissen und Kommentare. Aber so wie die Dinge bei genauerer Betrachtung (zum Beispiel des Economist) zur Zeit liegen, erinnere ich lieber an den eingangs erwähnten, anderen Volksmund, der die Vorsicht als die Mutter der Porzellankiste empfiehlt.
Und wo wir schon bei allerlei Volksmündern sind, hier noch zwei, die ebenfalls zur pandemischen Trump-Phobie und zum amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf passen: Vorfreude mag die schönste Freude sein, aber man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.