Politiker mit Migrationshintergrund sind in Sachen Migration oft von wesentlich härterer Gangart als solche ohne. Ein Phänomen, das sich oft auch im gut integrierten Teil der Zuwanderer zeigt. Ein aktuelles Beispiel liefert die britische Regierung.
Die Idee hatte ja was. Nicht nett, aber trickreich: Warum die Flüchtlinge, die in kleinen Booten nach England kommen, nicht einfach in großen Flugzeugen nach Ruanda umleiten? Dort könnte ja auch überprüft werden, ob sie überhaupt asylberechtigt sind.
Wie langwierig und lästig diese Aufgabe ist, erleben wir ja seit Jahren in Deutschland. Das Königreich wäre dank Ruanda mit einem Schlag das Problem los. Ein Präzedenzfall, von dem sich auch die deutsche Politik eine Scheibe abschneiden könnte? Es müsste ja nicht Ruanda sein. Wie wär's mit Deutsch-Südwest, sorry, mit Namibia? Die Frage erübrigt sich, weil Englands Oberster Gerichtshof den Ruanda-Plan für gesetzwidrig erklärt und damit gekillt hat.
Das Flüchtlingsthema ist im Königreich genauso virulent wie bei uns, und zwar bei deutlich niedrigerer Willkommensbereitschaft. In England schaffen es bereits 230.000 zur Zeit vorhandene Flüchtlinge, zu einem zentralen Punkt der Regierungspolitik und der öffentlichen Debatte zu werden. In Deutschland hat die zehnfache Zahl Schutzsuchender die Regierungspolitik erst jetzt aus ihrem Wachkoma gerissen. Dabei ist unsere Million Ukraineflüchtlinge nicht mal mitgezählt.
Politiker-Trio mit ziemlich frischem Migrationshintergrund
Wie auch immer: In England wird schon länger von einer „Invasion“ gesprochen. Und Rishi Sunak hat als Premierminister ein Hauptziel seiner Politik so beschrieben: „Wir stoppen die kleinen Flüchtlingsboote“. Apropos Rishi Sunak: Der energische Kampf gegen die vergleichsweise kleine Flut der Flüchtlinge in ihren kleinen Booten wurde und wird von einem Politiker-Trio mit ziemlich frischem Migrationshintergrund geführt. Der Hintergrund der Dreiergruppe ist indisch mit einer starken afrikanischen Note.
Die Eltern des amtierenden Premierministers sind indischen Ursprungs und haben in Kenia gelebt, ehe sie nach England einwanderten. Nicht in kleinen Booten, sondern gut betucht, aber immerhin eingewandert. Die erste Innenministerin, die im Auftrag des damaligen Premierministers Boris Johnson den Ruanda-Plan entwarf und propagierte, war Priti Patel. Ihre Eltern, ebenfalls indischer Herkunft, sind aus Uganda eingewandert. Also aus der Nachbarschaft von Ruanda. Ihr Plan überlebte sie politisch und landete schließlich bei Suella Braverman, die sich ebenfalls als Innenministerin energisch für die Ruanda-Idee einsetzte. Auch ihre Eltern haben indische Wurzeln und sind von Kenia (Vater) und Mauritius (Mutter) nach England eingewandert.
Suella Braverman ist vor ein paar Tagen von Rishi Sunak aus der Regierung hinausgeschmissen worden, aber nicht wegen Ruanda. Ihr Chef hoffte, wie sie, das Flüchtlingsproblem mit Hilfe großzügiger Zahlungen an Ruanda lösen zu können. Auch Suella Bravermans Nachfolger, James Cleverly, war im gleichen, regierungsoffiziellen Boot. Dass seine Mutter aus Sierra Leone eingewandert ist, sei nur am Rande erwähnt. Die konservative Regierung hat – anders als unsere selbsterklärtermaßen progressive Regierung – nun mal einen starken Migrationshintergrund.
Eine etwas umständliche Variante der deutschen Türkei-Politik
Das englische Ruanda-Verfahren wäre im Grunde nur eine etwas umständliche Variante der deutschen Türkei-Politik gewesen. Diese bewegt bekanntlich Erdogan mit kräftigen finanziellen Anreizen dazu, Flüchtlinge, die es nach Deutschland zieht, bei sich festzuhalten. Und wenn wir nicht brav sind, droht er schon mal, uns wieder eine größere Gruppe rüberzuschicken.
Die Briten sind jetzt am Verfassungsgericht gescheitert, weil Ruanda im dringenden Verdacht steht, Flüchtlinge wieder dorthin abzuschieben, wo sie hergekommen sind. Bei anerkannten Asylsuchenden wäre das ein Verstoß gegen internationales Recht. Asylberechtigte dürfen nicht dorthin zurückgeschickt werden, wo ihnen Gefahr für Leib und Leben droht.
Also wohin mit den Leuten, die inzwischen auch bei uns als zu zahlreich empfunden werden? Zumal viele sich nicht anständig verhalten, sondern in Hassorgien gegen Juden ausbrechen? Unsere Außenministerin Annalena Baerbock versucht ohne sichtbaren Erfolg, den einen oder anderen Ausreiseplatz zu finden.
Die regierenden Briten müssen sich etwas Neues ausdenken. Denn die Begrenzung des Flüchtlingszuzugs gilt als die beste Chance der Konservativen, sich wenigstens hauchdünne Hoffnungen bei den kommenden Wahlen machen zu können, die ganz nach einem Labour-Sieg aussehen. Ob zwei afrikanische Länder, aus denen die Eltern der Ruanda-Vordenker herkamen, also Kenia und Uganda, für ein neues Ausreiseprogramm infrage kommen, ist nicht bekannt.
Bekannt ist das Phänomen, dass Leute, die ganz persönlich mit einem Migrationshintergrund zu tun haben, nicht immer die gleiche Willkommensgeduld aufbringen wie mancher Bio-Deutsche. Dass etliche unserer Mitbürger mit türkischem oder russischem Hintergrund fröhlich die AfD wählen, ist – wie die Engländer sagen würden – köstliches „food for thought“.
Rainer Bonhorst, geboren 1942 in Nürnberg, arbeitete als Korrespondent der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) in London und Washington. Von 1994 bis 2009 war er Chefredakteur der Augsburger Allgemeinen Zeitung.