Gastautor / 20.04.2010 / 16:23 / 0 / Seite ausdrucken

Der Mythos vom edlen Wilden

Florian Zapf

„Der Schekel stinkt nicht, und so kaufen sie Ungarn auf“, erklärte im März ein Redner der rechtsextremen Jobbik-Partei 50.000 Budapestern. Israelische Investoren seien dabei, sich Ungarn einzuverleiben. Produzenten dergestalt unappetitlichen Neonazi-Quarks straft man hierzulande gern und zu Recht mit Ausgrenzung. Multikulturalistisch aromatisierter Rassismus stößt der breiten Öffentlichkeit dagegen kaum auf. Wohl vor allem, weil er häufig als Kompliment daherkommt.
So sagte der große US-amerikanische Geigenvirtuose Yehudi Menuhin zum Beispiel über das Verhältnis zwischen westlicher und indischer Kultur: „Wir wollen die Natur nutzbar machen – sie passen sich ihr einfühlsam an.“ Menuhin entwirft ein Bild Indiens, das an James Camerons „Avatar“ erinnert, der jüngsten Hollywood-Inszenierung des Mythos vom edlen Wilden. Hier sitzt der Hindu meditierend unter der Pappelfeige und ist eins mit dem Universum; dort schließen sich die Na’vi-Blauhäute vom Mond Pandora per Tentakel mit ihren außerirdischen Gäulen kurz und reiten in den Sonnenuntergang.

In beiden Fällen haben die Naturburschen und -mädels dem Menschen der Moderne eines voraus: Sie leben in Platons Reich der Ideen. Es braucht keine Mauerspechte, um die vermeintliche Barriere zwischen Erscheinung und Realität, zwischen Kultur und Natur einzureißen – die ewigen Jagdgründe auf Erden sind nicht eine Perestroika entfernt, sondern längst natürliches Habitat. Der aufgeklärte und also zur eigenen Sinnsuche gezwungene Mensch scheint im Licht einer solchen Fabelwelt indessen gegen Windmühlen anzureiten.

„Das Leben Indiens ist das Leben des Ganges, der ewig besteht und sich ewig erneuert“, sagte Menuhin. Man muss sich keine akute oder – Shiva bewahre – chronische Hepatitis im ebenso heiligen wie leider heillos verseuchten Old Man River der Hindus eingefangen haben, um an Menuhins Märchen vom indischen Garten Eden zu zweifeln. Es reicht, sich an Immanuel Kants Anthropologie zu erinnern, die den Menschen als das begreift, was er „als frei handelndes Wesen, aus sich selber macht.“
Nur weil das Individuum die Freiheit besitzt, rational zu handeln, kann es für Kant überhaupt als Mensch gelten. Jemanden als Menschen anzuerkennen, schließt demnach aber stets auch die Möglichkeit ein, dass dieser Fehler begeht und etwa klare Ströme zu Kloaken verdreckt. Fähig zu sein, richtig zu handeln, setzt voraus, dass man auch falsch agieren könnte. „Ehe die Vernunft erwachte, war noch kein Gebot oder Verbot, und also noch keine Übertretung“, schreibt Kant. In seinem Essay „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ steht die Vertreibung Adam und Evas aus dem Paradies (man könnte auch sagen: vom Mond Pandora) sinnbildlich für den Übergang „aus dem Gängelwagen des Instinktes zur Leitung der Vernunft, mit einem Worte: aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit.“

Vorstellungen von einem platonischen Ideenreich auf Erden, wo Natur und Kultur eins sind, entpuppen sich vor diesem Hintergrund als Rückstände eines autoritären Bewusstseins: Weil der Glaube an einen jenseitigen Himmel im Zuge der Aufklärung schwand, erwachte die Hoffnung auf ein diesseitiges Elysium, in dem der Mensch die Bürde des selbst bestimmten Lebens abwerfen und sich im Strom einer natürlichen Ordnung treiben lassen kann.

Der Aufklärer Kant ist für Projektionen dieser Art freilich nicht zu haben. Denn um in ein goldenes Zeitalter der Unschuld zurückzukehren, müsste der Mensch seine Fähigkeit zum rationalen Handeln verpfänden. Da die Person aber erst aus der Vernunft hervorgeht, stellt sich der Wunsch nach einem Rückfahrticket ins Paradies letztlich als Verlangen nach einer entmenschlichten Existenz dar: Gänzlich im Einklang mit der Natur lebend, das heißt, ihrer Vernunft beraubt, entpuppen sich Menuhins Hindus als Zombies – sie sind mehr Tier als Mensch.

Nirgends macht sich das anti-aufklärerische Ressentiment zurzeit stärker bemerkbar als in den Reaktionen westlicher Intellektueller angesichts des an Fahrt gewinnenden radikalen Islams. Schon als Ruhollah Khomeini sich 1978 anschickte, einen Gottesstaat auf persischem Boden zu errichten, faszinierte den französischen Philosophen Michel Foucault „die Kraft des mythischen Stroms“, der angeblich zwischen dem Mullah und seinen Anhängern floss. Beeindruckt zeigte sich der Pariser Denker auch vom iranischen Versuch, „der Politik eine spirituelle Dimension zu verleihen.“

Foucaults tyrannophile Bekenntnisse spiegelten sich im ungestümen Antiamerikanismus europäischer Intellektueller, als der Dschihad 2001 New York erreichte. Nachdem Gotteskrieger zwei Jets ins World Trade Center gelenkt hatten, befand der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann: „Das Überschwemmen der ganzen Welt mit Cola-Dosen, das musste irgendwann auch zu Gegenreaktionen führen.“ Günter Grass mahnte derweil an: „Der Westen muss sich endlich fragen, was er falsch gemacht hat.“ Wer würde auch verlangen, dass islamische Terroristen beziehungsweise deren Millionen starker Fanclub ihre Argumente überdenken? Schließlich steht der edle Wilde, so will es der Mythos, außerhalb des Reichs der Rationalität, mithin fernab des freien Willens und so auch jenseits jedweden moralischen Raums.

Was dem aufgeklärten Menschen unter dieser Bedingung dann allerdings noch bliebe, wäre die Durchsetzung eines „administrativen Artenschutzes“, wie schon Jürgen Habermas kritisierte. Immerhin könnte Hürlimann so das Habitat der real existierenden Na’vi vor der Kontamination durch Zuckersprudel-Dosen bewahren. Was nicht denken kann, für das muss gedacht werden: 1,5 Milliarden Muslime mutieren zum Mündel des Westens, dem man nicht einmal mehr die Entscheidung überlassen will, welche Brause sich zu trinken lohnt.

Eine ähnliche Bevormundung legten jüngst Thomas Steinfeld und andere Journalisten an den Tag, als sie muslimische Dissidenten wie Necla Kelek oder Ayaan Hirsi Ali kurzerhand zu Hasspredigern und heiligen Kriegern erklärten. Die Fähigkeit zur kritischen Reflexion möchte man Muslimen augenscheinlich nicht zugestehen. Lieber verkehren deutsche Feuilletonisten jene zu Fanatikern, die mit dem Tod bedroht werden, weil sie weder Burka noch Kopftuch oder Sprengstoffgürtel für kleidsam halten.

Im holsteinischen Behlendorf, wo Grass das Denken für Muslime übernimmt, lässt es sich selbstredend recht behaglich sinnieren. Einschläge gekaperter Passagierflugzeuge sind hier eher nicht zu befürchten, und auch Raketen regnet es keine. Anders sieht es bekanntlich zum Beispiel in Israel aus, in jenem Land, das zu tadeln der ehemalige Waffen-SS-Mann Grass sich immer wieder berufen fühlt. Für die Vorstellung vom Muslim als edlen Wilden können Juden im Nahen Osten sich jedoch verständlicherweise kaum erwärmen – zu offensichtlich ist, dass Hamas und Hisbollah nicht den Karneval der Kulturen, sondern hemmungslos den Mussolini tanzen.

Ahmad Bahr, parlamentarischer Sprecher der Hamas, bringt das Anliegen seiner Partei wie folgt auf den Punkt: „Oh Allah, bezwinge die Juden und ihre Helfer. Oh Allah, zähle sie und töte sie bis zum Allerletzten.“ Da selbstverständlich auch Araber, obschon es viele westliche Intellektuelle offenbar nicht für möglich halten, rational handeln können, bleiben Versuche, derart völkermörderische Absichten umzusetzen, nicht aus: Die Räumung sämtlicher jüdischer Gemeinden im Gazastreifen anno 2005 beantworteten die palästinensischen Dschihadisten folgerichtig mit einem bis heute anhaltenden Raketenbeschuss des südlichen Israel. Schließlich wähnt man sich auf dem Vormarsch gen Tel Aviv. An der nördlichen Landesgrenze Israels nutzt unterdessen Hassan Nasrallahs Hisbollah eine seit 2006 mehr schlecht als recht andauernde Waffenruhe, um sich mithilfe iranischer Gelder für den nächsten Schlag gegen die Juden aufzurüsten.

Wie tief der Mythos vom edlen Wilden im westlichen Denken verwurzelt ist, zeigt auch die Vehemenz, mit der Menschenrechts¬orga¬nisa¬tionen die Dämonisierung des säkularen jüdischen Staates vorantreiben. Israel verfügt über eine lebhafte Presse, ein demokratisch gewähltes Parlament sowie eine Justiz, die immer wieder Urteile gegen die eigene Regierung erlässt. In der Nachbarschaft Israels unterdrücken die arabischen Regime und der Iran hingegen mehr als 350 Millionen Bürger in geschlossenen, autokratischen Gesellschaften. Statt sich nun intensiv der Beseitigung dieses Übels zu widmen, haben Amnesty International und verwandte Organisationen mehr als 80 Dependancen in Israel eröffnet, in einer Demokratie von der Größe Hessens mit lediglich 7,4 Millionen Einwohnern wohlgemerkt.

Und so werden zentnerweise Israel-kritische Berichte veröffentlicht, in denen sich die NGOs etwa über jüdische Wohnungen auf mutmaßlich arabischem Gebiet empören (Ost-Jerusalem erscheint hier als Biotop, das es vor dem Eindringen fremder Arten zu schützen gilt). Während man sich beispielsweise zur Geschlechter-Segregation in Ländern wie dem Iran oder Saudi-Arabien nur flüsternd zu Wort meldet. Auch von einem Rückkehrrecht für die rund 900.000 Juden, die nach 1948 aus ihren arabischen Heimatländern unter anderem nach Israel vertrieben wurden, ließ man noch nichts verlauten.

Überraschend ist all dies gleichwohl nicht. Verkörpert Israel doch wie kein anderer Staat des Nahen Ostens den Geist der Moderne: Gemessen an Bevölkerungszahlen werden nur in Island mehr Bücher publiziert als hier. Kein Land verfügt über eine höhere Pro-Kopf-Rate an Ingenieuren und High-Tech-Startups. Die Israelis können sich überdies mit mehr Nobelpreisträgern brüsten als die gesamte islamische Welt. Kurz: Israel mag, da es das einzige Land mit jüdischer Mehrheit ist, eine erstklassige Projektionsfläche für antisemitische Ressentiments darstellen – als edler Wilder unter den Staaten taugt es nicht.

Krisztina Morvai, EU-Abgeordnete und Protegé der neofaschistischen Jobbik-Partei, behauptete vor kurzem: „Präsident Schimon Peres hat erklärt, dass Israel Ungarn aufkaufen wolle – dafür habe ich Belege. Und jeder sieht ja, welches Leid Israel in Palästina anrichtet.“ In einem offenen Brief an den israelischen Botschafter in Ungarn hatte die ehemalige UN-Mitarbeiterin ihre Meinung über Israel zuvor schon folgendermaßen ausgebreitet: „Die einzige Art, mit Leuten wie euch zu sprechen, ist die Manier der Hamas. Ich wünsche mir, dass ihr verlausten, dreckigen Mörder von der Hamas geküsst werdet.“

Hier finden zwei Rassismen zueinander, die man sonst fein säuberlich zu trennen weiß. Die Ungarin Morvai sieht sich von Juden als Palästinenserin unter den Europäern verfolgt. Eine solche Volte erstaunt aber nur auf den ersten Blick. Denn die Vorstellung vom edlen Wilden wie auch der totalitäre Traum der Jobbik-Partei sind sich insofern ähnlich, als sie beide das Individuum dem Kollektiv unterordnen. Die Identifikation gelingt den Feinden der Freiheit somit auf beiden Ebenen. Ganz egal aber, ob nun behauptet wird, die Natur oder die völkische Partei habe immer Recht: Palästinenser und Israelis verlieren in derart menschenverachtenden Spielen gleichermaßen.

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