Auch der Schneefall dieser Tage ändert nichts daran: Der Winter 2014/15 ist in Mitteleuropa vergleichsweise mild, sehr mild. Und schon sind wir wieder mitten drin im Thema: Klimawandel, globale Erwärmung. Gerade die Winterzeiten haben es dabei in sich. Seit einiger Zeit schon sind gerade sie, ihre Temperaturen, ihr Schneefall, ihre Eiszapfen deutlich stärker im Gespräch als die warmen Monate. Das war bei Rudi Carell noch anders. Der holländische Entertainer klagte 1975 noch den Klimawandel hin zu einem endlich wärmeren Sommer ein. Singend wünschte er sich damals die schönen heißen Tage aus den früheren Jahren, mit viel Sonne „und 40 Grad im Schatten“ zurück. Alle sangen mit. Die Titelzeile lautete: „Wann wird’s mal wieder richtig Sommer?“. Doch seit den Tagen hat sich der Fokus unserer Wehmut gehörig verschoben, unsere Sorge gilt dem Winter, nicht zuletzt durch eben den Diskurs um den Klimawandel. Ein kleiner Rückblick auf den Streit um den Winter lohnt deshalb.
Angefangen hat alles mit einem bemerkenswerten Zitat vor eineinhalb Jahrzehnten. Mojib Latif, in jenen Tagen noch einfacher Wissenschaftler im Hamburger Max-Planck-Institut für Meteorologie, aber bereits einer der bekannteren Köpfe in der Klimadebatte, wurde Anfang April 2000, zum 25. Geburtstag seines Institutes, gleich in einer ganzen Reihe von Zeitungen mit dem Satz zitiert: “Winter mit starkem Frost und viel Schnee wie noch vor zwanzig Jahren wird es in unseren Breiten nicht mehr geben”. Die Sache ging den Deutschen ans Gemüt. Was würde aus dem Schneemann, aus dem weißen Tannenbaum, was aus der Schneeballschlacht, aus Ski und Rodel?
Die Prognosen der Klimaforschung setzten in jenen Jahren noch eins drauf: Nach ihnen würden die insgesamt anstehenden wärmeren Zeiten weniger Rudi Carells schöne, heiße Sommer zurückbringen, sondern eher milde – also langweilige – Winter. Die Klimaerwärmung in Deutschland, so schrieb der geballte Sachverstand 2006 in einer Studie des Umweltbundesamtes (UBA), werde sich ausgeprägter im Winter als im Sommer bemerkbar machen.
Heute, im Winter 2014/15, bei Temperaturen in Deutschland um die zehn Grad, so könnte man sagen, sind Latifs These sowie die Prognose des UBA aktueller denn je. Und hat es nicht seit Latifs Zitat einige weitere durchaus warme Winter in Deutschland gegeben? Ja, vor allem 2006/2007. Unvergessen das Zusammenfallen dieses Rekord-Winters mit der kurz darauf erfolgten Vorlage des vierten Sachstandsberichtes des Weltklimarates, der die Zukunft des fiebrigen Globus in schwärzesten Farben malte. So dass viele im Lande es nur allzu logisch fanden, als der Friedensnobelpreis 2007 an den IPCC und Al Gore – verhinderter US-Präsident und Klimaaktivist – ging.
Und doch hat die Debatte über die Winter in Deutschland in den 14 Jahren seit Latifs Äußerung bemerkenswerte Wendungen erfahren. Die profanste Volte brachte da noch die tatsächliche Temperaturentwicklung, obwohl auch sie beachtlich ist. Da war zum Beispiel die Tendenz der letzten zweieinhalb Jahrzehnte bei den Wintertemperaturen. Die Winter zwischen 2001 und 2010 waren im Durchschnitt 0,1 Grad Celsius kälter als im Jahrzehnt davor zwischen 1991 und 2000. Und die Winter zwischen 2011 und 2014 waren noch einmal 0,1 Grad kälter als die zwischen 2001 und 2010. Auch wenn es sich nur um Stellen hinter dem Komma handelt, in der Klimadiskussion geht es nun mal um solche Größenordnungen. Wer also in den letzten Jahren den Eindruck von harten Winterzeiten hatte, lag so falsch nicht. Die Tendenz der Wintertemperaturen ging in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten nach unten, nicht nach oben. Die letzten fünf Winter bis 2012 waren allesamt kälter oder genauso kalt wie das langjährige Mittel von 1981 bis 2010. Auch anfangs des Jahrhunderts gab es sehr kalte Winter. Die Wintersportorte in den Alpen haben seit dem Millennium wenig bis nichts zu klagen gehabt, einige entscheidende meldeten laut einer Umfrage kontinuierlich bessere und kältere Bedingungen, wie der Meteorologe Dominik Jung in einer kleinen Erhebung feststellte. Der Schnee ist nicht verschwunden.
Die bemerkenswertere Volte aber vollzog sich nicht im Thermometer sondern auf dem Papier. Als die kalten Winter nicht mehr wegzudiskutieren waren, kamen entscheidende Institute im Land auf die originelle Idee, die eisigen Temperaturen auf die globale Erwärmung zurückzuführen. Grund sei das schwindende Meereis rund um den Nordpol. Vladimir Petoukhov vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung wird in einer Pressemitteilung des Institutes zu einer von ihm vorgelegten Studie zitiert: Störungen in den Luftströmungen, die von jenem Eisschwund verursacht würden, „könnten die Wahrscheinlichkeit des Auftretens extrem kalter Winter in Europa und Nordasien verdreifachen“. Ergo: „Harte Winter wie der vergangenen Jahres oder jener 2005/06 widersprechen nicht dem Bild globaler Erwärmung, sondern vervollständigen es eher.“ Der Befund löste Stirnrunzeln aus. Doch auch das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung legte ein ähnlich lautendes Papier vor.
Es klingt absurd. Aber die Klimaforscher haben wohlgemerkt nicht behauptet, dass eine globale Abkühlung mit der globalen Erwärmung einhergehe. Härtere Winter werden – vorerst – nur für Europa vorhergesagt. Und deshalb könnte der Zusammenhang, so widersinnig er sich zunächst anhört, auf einer gewissen Logik basieren. Stark vereinfacht dargestellt lautet sie so: Das schwindende Meereis in der Arktis schwächt den sogenannten „Albedo-Effekt“ (die Rückstrahlung von Sonnenergie) ab, weil aufgrund einer geringeren Eisfläche die Reflektionsfläche kleiner wird. Dies bewirkt eine tendenzielle Erwärmung des Meeres rund um den Nordpol. Dadurch wiederum verringern sich die Temperaturunterschiede im Atlantik zwischen dem hohen Norden und den gemäßigten Breiten. Aus diesen Unterschieden aber (grob gesagt zwischen dem Islandtief und dem Azorenhoch) zieht das Wetter über dem Atlantik seine Dynamik, seine Kraft, mit der es auf Europa einwirkt. Werden die Unterschiede, die Kraft geringer, so verliert der Atlantik an Einfluss auf unser Wettergeschehen. Mit der Folge, dass Europa den östlichen oder gar nördlichen Witterungen ausgesetzt wird, und nicht den milden westlichen. Und das heißt: Eiseskälte, harte Winter.
So weit, so logisch. Und was das Ganze noch untermauern könnte: Die jährliche, regelmäßige Eisschmelze rund um den Nordpol war im vergangenen Sommer sehr gering. Die Eisfläche war also, entgegen allen vorhergesagten Tendenzen, größer als in den Sommermonaten der allermeisten letzten Jahre. Und deshalb wäre tatsächlich – nach der gerade geschilderten Logik – der Temperaturunterschied zwischen Island-Tief und Azoren-Hoch diesen Winter auch wieder stärker, die Dynamik und die Kraft des Atlantiks wieder stärker, so dass uns der westliche Ozean Europa derzeit vor dem eisigen Wetter aus dem Osten schützt. Die Kälte im Norden ist nach wie vor da. In den USA weiß man nach dem katastrophalen Wintereinbruch ein Lied davon zu singen, was es mit der Kälte aus arktischen Breiten in diesem Jahr auf sich hat, in Russland übrigens auch.
Bei aller geschilderten Logik bleiben allerdings viele Fragezeichen. Glaubwürdig klingt es nicht gerade, erst allzu wohlfeile Abgesänge auf den Winter anzustimmen, und hinterher, wenn sie sich als unbegründet herausstellten, wiederum genau dafür Theorien nachzuschieben. Das gilt auch für die Richtigstellung Mojib Latifs, seine Prognose über das Ende aller Winterträume sei eigentlich für den Zeitraum zwischen 2050 und 2100 gemeint gewesen, der Spiegel habe ihn damals falsch zitiert, wenn er dies erst nach einigen doch noch wieder sehr eisigen Wintern in einem Zeitungsinterview äußerte.
Die Theorie über die Schuld des schwindenden Meereises an den härteren Wintern ist obendrein nicht unumstritten. Mehrere Studien, darunter eine der ETH Zürich, ergaben kürzlich, dass daran wenig bis nichts dran sei. Und schließlich, auch das ist ja nicht unerheblich, hat sich jenes Meereis im Sommer 2014 tendenziell erst mal wieder stabilisiert – eine Richtung, die sich im laufenden Winter fortgesetzt hat. Die Ausdehnung dieser Tage hält sich gut im langjährigen Mittel. Warum, weiß noch niemand. Klar ist nur eins: Die Ausdehnung des Eises ist eben nicht nur von der Temperatur abhängig. Interessant ist in dem Zusammenhang auch, dass das Meereis rund um die Antarktis sich ebenfalls bestens hält.
Halten wir also fest: Dieser Winter ist vergleichsweise mild. Das ändert nichts an der Tatsache, dass die Wintermonate über die letzten zweieinhalb Jahrzehnte in Deutschland kälter geworden sind. Dies widerspricht vielfachen Prognosen der Klimaforschung noch vor einigen Jahren. Deshalb kamen im Nachhinein Theorien ins Spiel, die die eisigen Winter als Folge der globalen Erwärmung hinstellen, die aber auch nicht unumstritten sind. Nebenbei stellt sich dabei heraus, dass das arktische Meereises durchaus auch mal wieder zulegen kann. Und nach wie vor gilt die Auszeit der globalen Temperaturzunahme. Keiner weiß, wie lange sie anhalten wird, auch wenn wir dieses Jahr, wohl als Ursache eines „El Nino“, mal wieder Spitzenwerte erfahren werden.
Noch etwas: Sollte ein Schlagersänger irgendwann einmal auf die Idee kommen, ein wehmütiges Lied auf das doch irgendwie offensichtliche Ende der Weißen Weihnacht anzustimmen, so beachte er bitte sehr: Weiße Weihnachten waren schon immer eher die Ausnahme als die Regel.