Von P. Werner Lange.
Wer die deutsche Literatur durchforstet, begegnet so manchem Spaziergänger, auch auf längerer Route. Zum Beispiel Johann Gottfried Seume, den man gerade in heutigen Zusammenhängen gerne noch einmal konsultiert.
Vor langer Zeit war es möglich, dass man unversehens einem leibhaftigen Dichter und Schriftsteller auf der Landstraße begegnete: Heine, Hölderlin, Lenz, Seume – was weiß ich. Im Literaturunterricht habe ich noch von ihnen gehört, und einer, der Johann Gottfried Seume, interessierte mich damals mehr als andere, weil er zur See gefahren und weit gereist war. In die Literaturempfehlungen für die Oberstufe heutiger Gymnasien ist er freilich nicht mehr gelangt. Seine Gedichte – von Goethe „griesgrämig, misswollend, negativ, sansculottisch“ genannt – sind schon allein wegen der häufigen Bezüge zur Antike nur mit Mühe lesbar, und das gilt nunmehr zum Teil auch für seine Texte: Aufzeichnungen eines Reiseschriftstellers mit dem Hang zum politischen Publizisten. Weil wir inzwischen über Europa noch weniger als über die Antike wissen, ist dergleichen oft schwer verständlich. Ich habe ihn trotzdem gerade wieder gelesen. Weil der Mann Sachse war, Kursachse, und viel in Europa herumspazierte. So einer hat vielleicht doch noch etwas zu sagen.
Da war also von der Seefahrt die Rede, unter anderem von einer zweiundzwanzig Wochen währenden Überfahrt nach Halifax im heutigen Kanada. Das ist nicht nur ungewöhnlich, sondern schrecklich lang. Besonders dann, wenn man es wie Seume nicht freiwillig tut, sondern auf dem Weg nach Paris eingefangen und als Soldat an die Briten verkauft wurde, die seinerzeit in Nordamerika Krieg führten. Dabei hatte er noch Glück. Er blieb in der Kaserne und wurde wohlwollend behandelt – wie schon zuvor an Bord, als der Kapitän ihn bei lateinischer Lektüre überraschte.
„Zumal… ich etwas Vergnügen am Seewesen zeigte und in wenigen Tagen mir die Nomenklatur der Taue und Segel merkte und sehr flink und sicher oben in dem Mastwerke mit herumlief. Es war wieder das Bedürfnis der Tätigkeit, die mir allerhand kleine Vorteile schaffte und mich vorzüglich gesund erhielt. Da der Kapitän wohl merkte, dass die Schiffsportion meinem exemplarischen Appetit nicht zureichend war, ließ er mir großmütig heimlich zuweilen eine Nachtmütze voll Zwieback und Rindfleisch zukommen ...“ Angemerkt sei, dass jenes Rindfleisch aus einem stinkenden Pökelfass kam und das hochtrabend Schiffszwieback genannte Gebäck lediglich Hartbrot war. Die Würmer darin musste Seume „als Schmalz“ mitessen.
Ein Ausweg aus den Widersprüchen, den Zwiespälten jener Zeit?
Nein, auch wenn es schwerfällt, sich Seume bei Klettertouren in der Takelage vorzustellen, von zarter Natur war er gewiss nicht – er wird dennoch früh und als Kurgast sterben. Im Dezember 1801 bricht er in Grimma bei Leipzig zu einer berühmten Reise auf: „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“, heißt seine im folgenden Jahr erschienene Wegbeschreibung. Was einen armen Schlucker wie ihn bewegt – vor der oben erwähnten Reise nach Paris betrug sein gesamtes Vermögen nach dem Verkauf seiner Bibliothek neun Taler – zu kündigen und nach Syrakus auf Sizilien zu laufen, mag rätselhaft erscheinen. Denn den weitaus überwiegenden Teil des zweieinhalbtausend Kilometer langen Weges läuft er tatsächlich und verbraucht dabei zwei Stiefelsohlenpaare. Vermutet werden darf das von ihm genannte „Bedürfnis der Tätigkeit“, eine unglückliche Liebe, Verdruss über Goethes Urteil angesichts seiner soeben erschienenen Sammlung von Gedichten sowie die Sehnsucht nach Stätten der Antike. Das mag alles sein, aber da gibt es zum Beispiel Seumes Zeitgenossen Friedrich Hölderlin, der ebenfalls im Dezember 1801 aufbricht und von Nürtingen bei Stuttgart nach Bordeaux läuft. Ist es möglich, dass der Weg nach Sizilien ein Ausweg aus den Widersprüchen, den Zwiespälten jener Zeit ist? Einer, wie es in einem zum Spaziergang „ins Offene“ auffordernden Gedicht Hölderlins heißt, „bleiernen Zeit“?
Was er bei der Wanderung auf dem Leib und neben einem Dutzend Bücher in seinem Tornister aus Seehundsfell trägt, verrät Seume dem Verleger Göschen, für den er als Lektor gearbeitet hat und den er verlässt, weil er argwöhnt: „Wenn ich so fort korrigiere, fürchte ich nur, mein ganzes Leben wird ein Druckfehler werden." Demnach führt er neben Stiefeln, Hut und Straßenkleidung, dem gefüllten Tornister und einem Knotenstock einen blauen Frack, zwei Westen, zwei Hosen und Unterhosen, ein Paar wollene und ein Paar baumwollene Strümpfe, ein Paar Schuhe, ein Paar Pantoffeln, vier Halstücher und zwei Schnupftücher mit sich.
Nicht erwähnt hat er dabei die Anzahl der Hemden, mehrere Empfehlungsschreiben sowie einen Pass, Bargeld und Kreditbriefe für zweihundert Taler, die ihm der Dichter und Literaturmäzen Ludwig Gleim für die Reise geschenkt hat. Das Rasierzeug für beide trägt Schnorr von Carolsfeld, wie Gleim ein treuer Freund, jedoch auch ein Familienvater, der in Wien einsehen muss, dass Seumes Vorhaben nicht nur sehr anstrengend, sondern auch gefährlich ist. Gemessen an anderen Aufenthalten, bleibt Seume recht lange in Wien. Es ist möglich, dass er dort Aufzeichnungen beginnt, die verraten, was im Grunde hinter seinem Spaziergang steckt: ein unbändiges Verlangen nach Freiheit. Da wünscht er sich nämlich, „... dass der Himmel… mich behüten möchte vor den Händen der monarchischen und demagogischen Völkerbeglücker, die mit gleicher Despotie uns schlichten Menschen ihr System in die Nase heften wie der Samojede seinen Tieren den Ring.“
Ein Satz, für den man ihn über die Jahrhunderte hinweg umarmen möchte
Über den hoch verschneiten Semmering-Pass, über Graz und Triest zieht er nach Venedig und enttäuscht bald manchen Leser. Denn die liebste Landschaft ist ihm jene, die von Menschen gestaltet und ihnen nützlich ist. Mit wenigen Ausnahmen richtet er diesen sachlich abschätzenden Blick auch auf Italiens Kunstwerke und Architektur. Dies ist nicht Goethes „Italienische Reise“ oder die sogenannte Grand Tour junger Adliger. Tief bewegt scheint er nur an klassischen Stätten, wenn er einen der zwölf Bände von Homer bis Horaz aus dem Tornister kramen und in ihrer Sprache nachlesen kann, was sie an diesen Orten empfanden. Selbst für Syrakus, Ziel und südlichster Punkt der Wanderung, hat er nur vier Tage und wenige Druckseiten, auf denen die Arethusaquelle im Vergleich mit dem griechischen Theater und anderen Sehenswürdigkeiten etwas viel Raum beansprucht. Es ist dennoch ein Vergnügen, das Buch einer Pilgerfahrt zu lesen, deren eigentliches Ziel die Menschen sind. Von ihren Ansichten und Lebensumständen weiß er wunderbar zu berichten. Und mittendrin steht ein Satz, für den man ihn über die Jahrhunderte hinweg umarmen möchte: „Sizilien ist ein Land des Fleißes, der Arbeit und der Ausdauer.“
Hier mag gefragt werden, wozu die Geschichte vom Freiheitsdrang eines vergessenen Dichters und seinem „Spaziergang nach Syrakus“ noch taugt. Nun, hin und wieder wird sie noch gelesen. Zum Beispiel von Klaus Müller, wie Seume ein Sachse, der vor vierzig und mehr Jahren davon träumt, seinem Landsmann zu folgen. Vielleicht lässt ihm neben der Sehnsucht nach Italien ein Satz im „Spaziergang“ keine Ruhe: „Meine meisten Schicksale lagen in den Verhältnissen meines Lebens; und der letzte Gang nach Sizilien war vielleicht der erste ganz freie Entschluss von einiger Bedeutung.“
Jedoch, Müller ist Bürger der DDR, seine Gesuche um einen Reisepass bleiben vergeblich. Er bittet darum, Verwandte in der Bundesrepublik besuchen zu dürfen, wendet sich an Bürgermeister westdeutscher Partnerstädte, hofft auf Einladungen und will von dort weiterreisen. Er sucht Hilfe bei einer deutsch-italienischen Freundschaftsgesellschaft und bei einem einflussreichen Rechtsanwalt. Das geht so sieben Jahre lang, in denen Müller schließlich eine Jolle kauft, segeln lernt, als Barmixer, Bufettier und Kellner „Westgeld“ sammelt – erworben zum Schwarzmarktkurs sowie Trinkgelder, die ihm westdeutsche Urlauber an der Ostseeküste zustecken. Den Schatz vergräbt er in einem Park in Prag, bis er ihn von dort aufgeteilt in Briefen in die Bundesrepublik senden kann. Um sie nicht zu gefährden, weiht er nicht einmal seine Frau in das Vorhaben ein: nachts an den Grenzwächtern vorbei von Hiddensee nach Dänemark zu segeln.
Klaus Müller kehrt im Oktober 1988 in die DDR zurück
Das gelingt im Juni 1988. In Briefen an Politiker und Diplomaten kündigt Müller mehrfach an, dass er sich damit seine italienische Pilger- und Bildungsreise ertrotzt hat und danach heimkehren wird. Er lässt sich nicht als Flüchtling vereinnahmen und zu Interviews hinreißen, die ihm den Rückweg versperren könnten – seine Liebe zur Heimat und zu Menschen, die ihm nahe sind, ist größer als seine Abscheu vor der Diktatur. Stattdessen arbeitet er als Kellner und wird nicht selten betrogen, schläft in Jugendherbergen und Arbeiterquartieren, bis er das Geld für Zugreisen und Hotels in Italien beisammen hat. Im September ist er in Syrakus, in der Stadt, in der Archimedes und Platon, Aischylos und Pindar lebten. Der gebildete ehemalige Maschinenschlosser Müller weiß nun den Ort seiner Sehnsucht zu schätzen und zu schildern, obgleich er sich nicht wie einst Seume aus einem mit Büchern gefüllten Tornister bedienen kann. Er hat es übrigens auch in anderer Hinsicht schwerer als sein Vorbild.
Klaus Müller kehrt im Oktober 1988 in die DDR zurück. Er wird nicht angeklagt, aber oft verhört. Manchmal flackert auf der Seite der vernehmenden Staatssicherheitsoffiziere so etwas wie Verständnis auf. Bisweilen erinnert die Situation an den Augenblick, als der Kapitän des Truppentransporters sich über den lesenden Seume beugte: „Oh, Sie lesen Latein?“ Allerdings schenkt man ihm keine „Nachtmütze voll Zwieback und Rindfleisch“, aber als er im Scherz vorbringt, er würde zum Beginn der neunziger Jahre gern nach Großbritannien reisen, sagt ihm einer sinngemäß: „So lange werden Sie nicht mehr darauf warten müssen.“ Diese Herren wissen besser als die Politiker, wie es um den Staat steht, den sie schützen sollen.
Am meisten verletzt fühlt Müller sich damals davon, dass ehemalige Freunde sich neidisch von ihm abwenden, weil sie weniger mutig sind. Als ich das noch einmal lese, kommt mir in den Sinn, was viele offenkundig für heutige Spaziergänger empfinden, für Menschen, die sich dem Nasenring verweigern, von dem Seume schrieb, Menschen, die unsere Ängste vor den Nebenwirkungen der Impfungen nicht teilen müssen, Menschen, die angeblich den Ausweg der Herdenimmunität versperren, den man uns versprochen hat. Aber haben sie wirklich einen völligen Erfolg der Impfstoffe vereitelt, ist ihre Berührung gefährlicher als die unsere? Sind sie „Aasgeier der Pandemie“ (Kretschmann, Grüne), die mit Reiterstaffeln, Wasserwerfern, Reizgas und Schlagstöcken um unserer Gesundheit willen verscheucht werden müssen?
Bei einer Demonstration in Berlin hat es im August neben zahlreichen Verletzten den ersten Toten gegeben – wie es heißt, erlitt er einen Herzinfarkt. Bilder von blutenden Menschen, von Frauen, die auf das Pflaster geschleudert wurden, veranlassten Nils Melzer, den vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen ernannten Beauftragten zur Untersuchung von Foltervorwürfen, die Bundesregierung zu mahnen, „dass auch in Fällen, in denen eine Versammlung nicht mehr rechtmäßig oder friedlich ist, die Teilnehmer ihre Menschenrechte behalten“. Sind das Bilder aus dem „besten Deutschland, das es jemals gegeben hat” (Steinmeier)? Die Antworten sind meist so irrational wie die Ereignisse, und niemand vermag bestimmt zu sagen, von welcher Seite eigentlich „Hass und Hetze“ ausgehen. Nachdem einer Minderheit – so etwas war bisher stets gut und schützenswert – die Demonstrationen und Versammlungen verboten oder gar zerschlagen wurden, weil es vorgeblich dem „Gesundheitsschutz“ diente (Geisel, SPD, zuvor SED), gehen die Betroffenen jetzt spazieren, und das ist ihr gutes Recht.
„Der Mensch braucht durchaus nichts als sich selbst, um Wahrheit zu sehen; nichts als seine eigene Kraft, um ihr zu folgen; und nur seinen eigenen Mut, um dadurch so viel Glückseligkeit zu erlangen, als seine Natur ihm gewähren kann.“ (Seume, Mein Sommer 1805)
P. Werner Lange, ursprünglich Seemann, ist ein deutscher Autor von Biografien, Reisebeschreibungen, erzählenden Sachbüchern und Hörspielen. Er lebt bei Berlin.