Richard Wagner / 05.07.2008 / 10:38 / 0 / Seite ausdrucken

Der enteignete Springer

Nicht was geschrieben wird, ist entscheidend, sondern wie getitelt wird. Das wissen heute alle, und sie wenden dieses Wissen auch täglich an. Auch wir, hier. Die Schlagzeile leitet den Tag ein, wie früher die Turmuhr.

Gut geschlafen? Macht nichts. Wir werden Ihnen die Laune noch rechtzeitig verderben. So dass Sie am Ende denken, Glück gehabt, wenigstens nochmals gut geschlafen. Der Tagesablauf ist nichts anderes als eine Einübung in die vermeintliche Dramatik der Ereignisse.

Die Eskalation wird mit Worten und Wortschöpfungen betrieben. Von „Datenspeicherwahn“ bis „Konsumverzicht“ und „Preisschocktalk.“ Früher wurde nach Begriffen gesucht, die neue Phänomene erfassbar machen sollten, heute treiben die Verbalkonstrukte die Ereignisse an. Das ist die Kehrseite der Erlebnisgesellschaft.

Wo nichts mehr einen Sinn ergibt, bekommt alles eine falsche Bedeutung. Die Story untergräbt nicht das Thema, wie man früher dachte, sie ersetzt es. Das ist das offene Geheimnis des Boulevards, das jeder kennt, und dabei trotzdem der Überzeugung ist, nur er wisse davon.

Springer ist enteignet, aber auf eine ganz andere Art, als Mao Zedong und Peter Schneider es 1968 vorgesehen hatten. Er wurde durch den langen Marsch der Imitation enteignet, und lebt gar nicht so schlecht davon, kann er sich doch souverän als das Original präsentieren.

Springer ist der siegreiche Enteignete der Geschichte. Selbst die TAZ, das blubbernde Organ des alternativen Denkens, ist längst zum Imperium der von BILD eingeleiteten Sprachregelungen gestoßen. Zum Beispiel: „ARD setzt Flaggen-Fledderei fort“. Oder: „ CSU installiert ihre Trojaner“. Und:  „Posieren mit Hitler verboten“.

So gesehen, ist das Rudi-Dutschke-Straßenschild, das man in Berlin wie einen Vorposten zum Springer-Haus vorgeschoben hat, nichts weiter als ein Denkmal für den Pyrrhussieg. Denn es fehlt der Frontenverlauf, und das nicht bloß, weil die Mauer verschwunden ist.

Die Katastrophe kennzeichnet weniger die Realität als das reale Denken. Die mehr ausgedachte als hausgemachte Krise vereinigt dabei Rechts und Links, die Mitte und den Rand zu einer großen Koalition der Hysteriker. Die Hysterie aber hat einen viel zu wenig beachteten Seiteneffekt: Sie lässt den Blick aufs Detail nicht nur aus, sie lässt ihn gar nicht erst aufkommen. Vielmehr geht man verbal unentwegt aufs Ganze, das man beklagt, ohne einen Finger zu rühren, so dass man den Verdacht nicht loswird, es gäbe ein unumstößliches Menschenrecht aufs Gruseln, und dieses Gruseln habe der Turmuhr den Garaus gemacht. So, als wären lauter Großuhrmacher unterwegs und kein einziger unter ihnen kenne die Waagbalkenhemmung.

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