Anstand hat im privaten Alltag durchaus seinen Wert. Man wird wohl kaum verlangen koennen und wollen, dass die alleinerziehende Mutter, während ihr Gör ein Restaurant zusammenbrüllt, Kant zu Rate zieht, um das Fehlverhalten zu erkennen. Es genuegt, wenn sie erkennt, was anständig ist und danach handelt. Die Italiener nennen das Bella figura und meinen mehr als nur, dass man in der oeffentlichkeit sich anständig anzieht. Man befolgt gewisse Normen, die nicht hinterfragt werden, damit man sich gegenseitig nicht permanent auf die Nerven geht und vermeidet es so, uebergriffig zu werden. Dort gehoert der Anstand hin. Nicht in gesellschaftspolitische Debatten, wo er als Argument rein affirmativ ist und meist nur ein Freund Feind schema absichern soll. Allerdings spielt er dort auch dort wieder eine Rolle, wenn zum Beispiel im Bundestag ein Abgeordneter seine Kollegen als haesslich bezeichnet. Das tut man nicht, auch wenn es richtig waere. Das verbietet der Anstand und nebenbei auch die vernunft.
Was will man vom Wort zum Sonntag im öffentlich-rechtlichen Fernsehen im Zusammenhang mit Chemnitz schon erwarten? Wenn die christliche, hochanständige Pastorin es gewagt hätte, die Texte auf dem sog. “Friedenskonzert” zu kritisieren, wäre sie sofort in die rechte Ecke gestellt worden, weil die dort gegrunzten, derben Sprüche ein zulässiges Mittel gegen Rechts darstellen und als “Kunst” einzuordnen sind.
Ich musste mitten im Text aufhoeren zu lesen, um diesen Kommentar zu schreiben. Fangen wir jetzt genauso an, wie die Linken, bestimmte Begriffe als gut oder schlecht zu bezeichnen, nur weil sie auch im Nationalsozialismus verwendet wurden? Der Begriff “Anstand” hat keine “fragwuerdigen Geschichte im Nationalsozialismus”, nur weil ein paar Hardcore Nazis diesen zum Transport ihrer verbrecherischen Ideologie ge- oder gar missbrauchten . Es ist einfach nur ein deutsches Wort, schlagen Sie mal im Duden nach…
Bald sind wir wieder in den Zeiten angekommen, wo Anstand und nicht persönliche Entscheidungsfreiheit unter Einhaltung von Recht und Gesetz bestimmen, wann und wen man wo treffen darf, wie man sich anzuziehen hat und welche Floskeln man verwenden muss, um nicht unhöflich zu sein. Es ist derselbe Wischiwaschi-Begriff mit beliebig hineindefinierbarer Bedeutung wie “Gesicht zeigen”, “Haltung zeigen”, uvm. All das tun terroristische Islamisten auch nach ihrer eigenen Definition und nach Auslegung ihrer Religion. Nun ist der Begriff nicht zufällig gewählt, denn er eignet sich bestens dazu, den Anschein von Unrechtmäßigkeit zu erwecken, wo kein Unrecht verübt wurde. Man kann auf die Darlegung von konkreten Kritikpunkten verzichten und vermeidet so, auch über die Hintergründe zu reden. Vielleicht könnten die Anständigen auch einmal anregen, den weniger Anständigen unter den Flüchtlingen etwas Anstand beizubringen. Aber genau das soll ja nicht thematisiert werden.
Tja, man hat als Protagonist des Anständigen eine Mission, die erfüllt werden muss, man hat als Anständiger einen quasireligiösen Glauben an das Anständige, eine mythisch überhöhte Gedankenwelt, die in die Bewegung von Massen umgesetzt werden muss, da haben dann der ganze Staat und die ganze Gesellschaft bei der Erfüllung des Anständigen mitzumachen, da sorgen dann die Medien und die Bildungseinrichtungen für die gleichen anständigen Gedanken und anständigen Gefühle der ins Anständige eingebundenen Gesellschaftsmitglieder, und da werden alle diejenigen, die sich dem Anständigen widersetzen, erst einmal nur ausgegrenzt und als unständig beschimpft, während doch die Anständigen diesen obstinaten Personen gerne auf andere Weise ihren Anstand beibringen würden. Und da hat es einmal eine politische Bewegung gegeben, deren Name mir gerade nicht einfällt, der aber diese „anständigen“ Eigenschaften zugeschrieben werden.
Was man auch wieder zunehmend wie schon zu unseeligen Zeiten beobachten kann, wie die “anständigen” Leute anfangen die unappettitliche Realität um sie herum in ein großes gemütliches Narrativ einzuzimmern, eine persönliche Lebenslüge mit der man durch den Alltag geht. So wusste Caroline Rosales, “Single Mom” und Redakteurin der Berliner Morgenpost, kürzlich dem erstaunten Berliner zu berichten: “Der Zuwachs von Privatschulen – so sollte es die Politik sehen – hat manchmal wenig mit elitärem Denken zu tun, sondern einfach mit der Unlust, mit Rechten und ihren Kindern zu reden.” Und schwupp hat dieses bunte, weltoffene Deutschland nur noch dort Probleme, wo “Papis und Mamis Dosenbier tranken und rechte Sprüche von sich gaben”.
Im Grunde haben Sie mit Ihrem Artikel nur den “Apparat” und seine Mitläufer und Karrieristen beschrieben, wie er in allen autoritären Regimen existiert. Wir sind auf dem besten Weg dorthin.
Es war gestern wohl der Tag der Gesichtsverluste und Entlarvungen, nicht nur bei der SPD, auch bei Spiegel online. Der Herr Kuzmany, der immer vor Empörung bebend und moralsabbernd in die Tasten haut, um den Anstand zu beschwören, hatte sich vor einigen Monaten über Gaulands Horrorwort „entsorgen“ fürchterlich erregt („daran erkennt man Nazi-Denke“). Gestern titelte er seinen Kommentar über die Personalsache Maaßen mit dem Satz: „Nach oben entsorgt“. Fehlt SPON der Anstand? Ist Herr Kuzmany ein verkappter Nazi? Oder darf man das schauerliche Wort „entsorgen“ bei Frau Özoguz niemals, bei Herrn Maaßen aber durchaus schon sagen? Sind solche Doppelstandards nicht schäbig? Ja, der Anstand ist ein verlogenes Subjekt, das je nach Gesinnung angepasst wird. Meine Großmutter sagte übrigens nie „Anstand“, sondern „gute Kinderstube“. Diesem Wort wird kaum die sprachliche Karriere von „Haltung“ und „Anstand“ beschieden sein. Kein Wunder, denn es impliziert Respekt und Höflichkeit gegenüber den Mitmenschen und klingt nach bürgerlicher Erziehung. Also nach allem, was diesen ungezogenen und billigen Figuren in Berlin fehlt.
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