Filipp Piatov / 10.11.2013 / 11:41 / 3 / Seite ausdrucken

Das Sowjetprinzip oder wer darf ich sein?

Neulich in der U-Bahn. Neben mir sitzen zwei alte, russische Damen. Beide tragen Wintermäntel, Wollmützen und überdimensionierte Brillen, Winterkollektion 1917 eben. Aber mal Scherz beiseite, diese beiden Damen saßen eine Viertelstunde neben mir und unterhielten sich angeregt und in sehr vertrautem Ton über einen berühmten, sowjetischen Schauspieler.

Wie viele Kinder hat er doch gleich? Drei, ach so.  Von zwei Frauen, die zweite war auch am Theater. Was der älteste Sohn macht? Physik hat er doch studiert, in Sankt Petersburg. Hat dann geheiratet und unterrichtet jetzt an der Universität. Ein fabelhafter Junge.Die Tochter? War mal Schauspielerin, dann einen Arzt geheiratet und nun zweifache Mutter. Erst letztens in einer Sendung zu sehen gewesen. Eine nette Frau, aber kein großes Talent.

In diesem Stil verlief das Gespräch. Kein Tratsch, kein Klatsch, keine Gerüchte. Diese Frauen, wahrscheinlich Mütter und Großmütter, sprachen über den Schauspieler und seine Familie, als wäre es ein guter Freund, jedoch ohne ihn zu kennen. Sie kannten sämtliche Details aus seinem Leben, aufgeschnappt in Zeitungsartikeln und Fernsehinterviews, Biographien und Gesprächen.

Und glauben Sie mir, liebe Leser, von solchen Schauspielern und anderen Künstlern gibt es Dutzenden, die jede Oma und jeder Opa in Russland in und auswendig kennt. Mit russischen Großeltern habe ich Erfahrung. Komische, alte Menschen, kann man sagen. Man kann jedoch weiter blicken, tiefer denken und dazu kommen, dass diese ruhige Besessenheit vom Leben fremder Menschen nicht weniger ist, als der Sieg des Individualismus über das Sowjetregime.

Das Leben in der Sowjetunion bot wenig richtigen Freiraum für persönliche Entwicklung. Wer kein überragendes Talent besaß, blieb ewig Zuschauer. Das Regime hatte einen Plan für alle, nicht für jeden. Zwar gab es ein reiches Kulturangebot, gute Filme, tolle Museen, Theater und Ballett. Aber all das war staatlich kontrolliert und immer zweckgebunden. Für wirklich freie Selbstentfaltung gab es keinen Platz. Was hätte man auch mit Menschen anfangen können, die ins Ausland oder aussehen wollten, wie die Beatles? Mit Menschen, die sich frei zwischen Kommunismus und Kapitalismus, zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen 5-Jahres-Plan und Freiheit entscheiden konnten?

Die Ideale waren in der Sowjetunion klar vorgegeben. Wer fleißig arbeitete, dessen Bild hing an der Ehrentafel im Büro. Und wer nach der Arbeit noch Kraft für anderes hatte, durfte ein hervorragendes Sportangebot wahrnehmen. Die Volksgesundheit musste erhalten werden.

Und für Freidenker gab es immer noch den Wodka. Des Sowjetregimes zuverlässigster Freund, der allzu kritische Bürger, wie den berühmten Sänger Wissotzki, schon mit 40 Jahren verschwinden ließ. Es gab einen Lebensentwurf und der wurde auch eingehalten. Morgens Gymnastik, abends die Flasche. Dazwischen Arbeit und Sport, die Kinder in der Schule, in den Ferien im Sommerlager. Urlaub gab es alle fünf Jahre am Schwarzen Meer, dafür alle zwei Wochen Theater und Ballett.

Die Werte waren klar festgesetzt. Neben anständiger Arbeit und ausgelassenen Festen gab es die hohe Kultur, uneingeschränkt respektiert und geachtet. Literatur hatte man zu lieben, Museen zu besuchen, klassische Musik zu schätzen. Und man tat es, natürlich. Der kommunistische Traum von einem besseren Menschen schien aufgegangen zu sein. Eine kultivierte Horde, ohne Eigeninteresse, ohne Kapital, dafür fleißig arbeitend und das gesellschaftliche Wohl im Sinn.

Fast hätten die Kommunisten Recht gehabt, fast hätten sie jetzt Recht, die alten Sowjetromantiker, die immer noch von den guten, alten Zeiten schwafeln, als Kultur noch etwas zählte, als junge Menschen sich noch bereitwillig der Bildung hingaben; jaja, Kultur.

Aber es gibt ihn nicht, diesen kommunistischen, besseren Menschen. Sie haben es geschafft, Menschen zu unterdrücken, sie zu beeinflussen, nachhaltig und destruktiv. Aber sie haben nicht geschafft, seine Natur zu verändern, seinen Trieb nach Einzigartigkeit, nach sich selbst, nach dem Herausstechen aus der Masse zu brechen.

Die beiden alten Damen aus der U-Bahn wurden darauf getrimmt, Kultur zu lieben, weil sie gut war für eine gesunde Gesellschaft. Und sie taten es. Aber sie gingen noch weiter und liebten nicht nur die Kultur, sondern auch den Künstler. Sogen alles auf, was sie über ihn erfahren konnten. Verinnerlichten es, dachten darüber nach, immer und immer wieder.

Die Künstler der Sowjetunion wurden und werden noch immer angehimmelt und geliebt. Jahrzehnte lang bildeten sie die Projektionsfläche für die Wünsche und Träume von Hunderten von Millionen von Menschen, von einzigartigen Menschen, von Individualisten. So sehr die Kommunisten es versuchten, der menschlichen Natur ihre Einzigartigkeit und damit ihren Drang nach Freiheit auszutreiben, so deutlich scheiterten sie.

Hier zuerst erschienen

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Leserpost

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Dieter Sulzbach / 12.11.2013

Als ich von den beiden rusischen Ladies las, fragte ich mich, wo sich die Szene wohl abgespielt haben mag - Berlin, Moskau, Jerusalem (U-Bahn??)? Nun lese ich, Sie studieren in Frankfurt/M.? Wie auch immer: Sehr einfühlsam geschildert und auch psychologisch konsistent! Wer mehrere “Wirklichkeiten” erlebt hat, sollte uns davon erzählen. Mehr davon!

Peter Grouzcera / 12.11.2013

Schostakowitsch statt Pussy Riot!

Alexander Bertram / 10.11.2013

Wollen Sie sich nicht mal mit dem sog. Freiheitsmanifest mit seinen 13 Thesen auseinandersetzen ? Wäre nötig ;-). Die WBG schreibt übrigens ein Promotionsstipendium zum Thema “Liberale Welt ohne Liberalismus?” aus.

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